Sonntag, 14. Oktober 2007

Drei mystische Orte

Für Tom Traveller gab es nur drei mystische Orte:

Die Wüste im nordamerikanischen Monument Valley. Im Oktober. In der Abenddämmerung. Hier hatte er zum erstenmal erfasst, warum die Berge für die Indianer der Sitz der Götter sind.

Den heiligen Pashupatinath Tempel im grünen und fruchtbaren Kathmandutal am Bagmati-Fluß. Im dichten Frühnebel. Im Himalaja. Um fünf Uhr morgens. Hier werden die Toten verbrannt.

Und die kleine Schaukel in Döbbelers Garten an einem sonnigen Sonntagnachmittag. Im Sauerland. Denn hier war es, wo er Anna zum ersten Mal berührt hatte.

Ein Roman also...

Tom hatte sich schnell mit dem Gedanken an einen Roman angefreundet und in den soeben verstrichenen zehn Minuten auch schon ein Konzept entwickelt. Ein Roman sollte es werden über echt coole Sachen, über Sex&Drugs&Rock'n'Roll eben. Was sonst. Ihm fiel diese Szene mit dem heroinsüchtigen Opa aus dem genialen Film „Little Miss Sunshine“ ein. Auf jeden Fall autobiographisch. Das war ja mal klar. Autobiografisch. Überhaupt: Fische. Das stellte er sich am Einfachsten vor. Die Fische waren ja immer zuerst da. - „Und sein Geist schwebte über dem Wasser“. Mein Gott! - Vielleicht würde er die Form eines Tagebuches wählen. Wer schrieb Tagebücher? Unzählige Menschen schrieben Tagebücher: Verbrecher, Heilige, Philosophen, junge Mädchen, Politiker und Schwachköpfe, zum Teil aus Eitelkeit, doch auch aus anderen, undurchschaubaren Motiven. Es mußte eine wundervoll beschwichtigende Kraft in den Wörtern liegen, die sie niederschrieben, sonst würden sich wohl kaum soviele Menschen im Umgang mit sich selbst des geschriebenen Wortes bedienen. "Die Tagebücher des Tom Traveller". Das klang gut. - Und über die Liebe. Ja, vor allem eine Liebesgeschichte sollte es werden, eine schöne Geschichte von der Liebe. Das Wort "Geschichte" sollte den Leser oder die Leserin darauf aufmerksam machen, daß - wie sehr die Eintragungen auch den Tatsachen entsprechen mochten - ein Prozeß der freien Erfindung stattfinden sollte.

Bloß...

...Tom hatte keine blasse Ahnung, wie er das alles schaffen sollte. Erstens hatte er in den vergangenen 21 Jahren noch nie ein Tagebuch geführt, und zweitens sah das alles nach verdammt viel Arbeit aus.

Der Gedanke aber, sowas wie einen Roman zu schreiben, begeisterte ihn und wühlte ihn von Grund auf. Er nahm von sich an, daß er mit ausreichenden Gaben der Phantasie und des Ausdrucks ausgestattet war. Schriftsteller. Das war´s. Was machen Schriftsteller? Schriftsteller sind viel unterwegs. Schriftsteller reisen durch die Weltgeschichte und erleben Abenteuer. Die Geschichten spielen in fernen Ländern und sind einfach zu verstehen.

Tom mußte an das Büchlein denken, das er zu seinem zehnten Geburtstag von seinem Vater geschenkt bekommen hatte. „In unserer Zeit" stand auf dem Umschlag und es enthielt 15 Geschichten. Der grüne Umschlag zeigte einen Indianerkopfschmuck mit großen weißen Adlerfedern. Der Schriftsteller, von dem die Geschichten stammten, hatte, so stand es auf der vorderen Umschlagseite, ein „bewegt abenteuerliches Leben" geführt und hieß Ernest Hemingway.

So wollte er auch schreiben, dachte Tom. Diese Sprache war ihm sehr nahe, sie hatte etwas Ehrliches, Aufrichtiges, Klares, nichts Kompliziertes, keine Schnörkel, nichts von aufgesetztem, dichterischem Prunk. Sie ergab sich direkt aus der Wahrnehmung und klang so elementar, als wäre sie die Sprache der Natur. Hemingway hatte als Reporter mit dem Schreiben begonnen. Aus dem Reporter Hemingway war mit der Zeit der Schriftsteller geworden. Warum sollte es sich da mit Tom Traveller anders verhalten?

Er fragte sich, ob er wohl genügend Einbildungskraft, Beobachtungsgabe und Erkenntnisfähigkeit besäße, um eine solch komplexe Angelegenheit wie einen Roman zustande zu bringen, sorgfältig ausgewählte Wörter zu einem sinnvollen Ganzen zu fügen?

Wörter, erinnerte er sich plötzlich an einen Gedanken Joseph Conrads, waren die erbitterten Feinde der Wirklichkeit.

Wie aber sollte er dann Wirklichkeit wiedergeben?

Es war an der Zeit, den Gedanken mit dem Buch erst einmal beiseite zu legen und heißes Wasser nachlaufen zu lassen, bevor ihn das alles zu sehr beschäftigte. Also legte Tom den Gedanken mit dem Buch erst einmal beiseite und ließ heißes Wasser nachlaufen.

Aaahh!

Hier war er in seinem Element. Dies war sein Ruhepool, den er brauchte wie den Duft der Welt zum Atmen. Hier fand er Inspiration, konnte er denken, schöpfte er neue Kraft. Für ihn war ein heißes Bad in der Wanne keineswegs gedankenlose Energieverschwendung, wie es ihm hin und wieder vorgeworfen wurde, nein, nein, ganz im Gegenteil: in der Wanne tankte er auf, lud er seine Batterien, dachte er.

Ein Bad war also gedankenvolle Energiegewinnung.

Die Badewanne war Tom´s Power Station. Für Tom Traveller war eine Stunde in der Wanne Energiegewinnung von der sanftesten Art überhaupt. Und eine Wannestunde war Wonnestunde und "happy hour" in einem. Wann immer möglich, nahm er ein Bad und entgegnete auf fürsorglich gemeinte Bemerkungen bezüglich des Zustandes seiner Haut gerne:

"Schatz, bist du so lieb und reichst mir bitte mal meinen Säureschutzmantel!".

"Can I have another peace"



Tom lag in der Badewanne und dachte nach.

Über das Leben.

Süß war es.

Er betrachtete aus etwa 1,80 Metern Entfernung seine Füße. "Du hast schöne, zufriedene Füße", hatte Katya eben noch gesagt. Süß war sie. Tom hatte ihr nicht erzählt, dass ein Kölner Orthopäde sie einmal nüchtern mit "Grösse 44, Senk- Platt- und Spreiz" beschrieben hatte.

Wenn er nun seine Füße, die links und rechts neben der kalt glänzenden Edelstahlarmatur auf dem Wannenrand ruhten, einer sehr sorgfältigen Prüfung unterzog, mußte er allerdings Katya recht geben. Seine Füße waren schön! Ihm gefiel die schlanke, leicht geschwungene Form mit den ausgeprägten, aber sanften Rundungen der Knöchel und Zehen. Ja, seine Füße, die in den vergangenen Wochen schokoladenbraun geworden waren, signalisierten dem Kopf, der auf dem gegenüberliegenden Wannenrand lag: hey, du bist zufrieden!

Er hatte spekuliert. Und gewonnen. Als der US-Dollar stark war, hatte er riskant mit Put-Optionen darauf gewettet, daß er fallen würde. So kam es. Er hatte seine Optionsscheine vor zwei Wochen gewinnbringend verkauft. Sein Einsatz von 20.000 Euro war mehr als verfünffacht worden. Easy money dachte Tom.

Kasino-Kapitalismus nannte es Katya.

Tom neigte jetzt ohne besondere Anstrengung den Kopf leicht zur Seite, blinzelte ein wenig, ließ die Augen langsam forschend hin und her wandern und hielt dann ruhig inne. So genoß er durch den seidenen Schleier seiner starken Kurzsichtigkeit, die den tropischen Badepavillon, in dem er sich befand, wie mit einem Weichzeichner verfremdete, den dunkelbraunen, schlanken Körper hinter der Glasscheibe.

Er hatte Katya in Boom`s Cafe auf Koh Pagnan kennengelernt. Mit ein paar Whisky-Cola und einem dort für seine magische Wirkung einschlägig bekannten Pilzpfannekuchen hatten sie sich in einer sternenklaren Vollmondnacht in Stimmung gebracht. Es bereitete ihm jetzt großes Vergnügen, sich in dem wohltuenden Gefühl der Erinnerung an eine mystische Spanne Zeit zu baden, die irgendwann auf jener südthailändischen Insel in der Abenddämmerung begonnen und bis zum Morgenrot angedauert hatte.

Während das milchige, warme Wasser seinen Körper sanft liebkoste, mußte er daran denken, wie Katyas Füße - die den seinen glichen - sich unter dem Bambustischchen am Strand mit einer weichen aber gezielten Bewegung nach vorn in den feinen, weißen Sand gegraben und an die Sekunde, in der ihre Zehenspitzen die Seinen berührt hatten. Später hatten ihre Körper, die vom Alkohol und der magischen Wirkung der Pilze im Lauf der Nacht wie schwerelos geworden waren, den Weg zum Meer gefunden. Die Fischer in den Hütten aus Bambus und Lehm hatten ihr Lachen hören müssen während Katya und Tom nackt in den nachtschwarzen Ozean hinausgeschwommen waren.

Jetzt, in der Badewanne auf Bali, verdrängte Tom das unangenehme Gefühl der Übelkeit, den leichten Schwindel und die plötzliche Enge in der Kehle, die er kurz nach dem Verzehr des Pfannkuchens verspürt hatte und der betörende Zauber jener Nacht fing ihn wieder ein und durchströmte seinen Körper. Er schloß die Augen und sog den Duft der Frau ein, die neben ihm duschte und deren Geruch sich mit dem des Badewassers vermischte.

Tom bildete sich ein, Gerüche sehr genau unterscheiden und selbst winzigste Spuren eines Geruches erkennen zu können. Ein Buch, das ihn gefesselt und nachhaltig beeindruckt hatte, war "Das Parfüm" gewesen.

Tom Traveller erinnerte sich, während er sich nun in der Wanne aufrichtete, um nach dem kühlen, süßen Cocktail zu langen, an dieses Buch der Düfte des Lebens und des Todes und daran, dass er, als er es im Nachtzug von Bangkok nach Surat Thani gelesen hatte, fasziniert von der Entdeckung gewesen war, daß es möglich ist, durch die bloße Beschreibung eines Geruches diesen wirklich wahrnehmen, ihn richtig riechen zu können! So hatte er eine genaue Vorstellung von dem Gestank der Fischköpfe und dem fauligen Abwasser auf den Märkten Asiens, von dem Duft der Lavendelfelder Südfrankreichs und dem Geruch der Frauen an ihrer Scham bekommen.

In jener Zeit hatte er sich oft in die Gerüche seiner Kindheit zurückversetzt und gelernt, die silbrig-schleimigen Forellen aus dem Dorfbach von Welschen Ennest mit kristallklarem, kühlem Wasser, das dahineilt durch ein Bett aus geschliffenen Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier wieder zu riechen wie auch das frische Heu und die warmen, dampfenden Kühe im Stall der Nachbarn, den Atem seiner Mutter und die Malerfarben seines Vaters.

Er zog langsam einen Schluck der hellroten alkoholischen Flüssigkeit mit dem Strohalm in den Mund und beliess ihn dort für eine Weile. Diese Weile reichte aus, den Geschmack von Rum, Curacao, Limonen, Orangen und Ananas zu erkennen und die Schleimhäute des Gaumens damit zu benetzen, ehe Tom das Gemisch in drei kleinen Schlücken in die Speiseröhre entließ.

Katya drückte ihre Nase an die Glaswand, die Dusche und Bad voneinander trennte und sandte einen Kuß Richtung Badewanne, indem sie nun auch ihre geschlossenen Lippen an die Scheibe legte. Dabei berührten ihre Brustspitzen und ein Knie das feuchte Glas.

Tom erwiderte ihren Kuß und prostete ihr zu. Er genoß es, sie so zu betrachten. Katya war schlank, fast schon dünn und Zahnärztin irgendwo in Norddeutschland. Es erregte ihn, sie so hinter der Scheibe zu sehen, und er dachte an ihre erste Nacht im Wasser.

Es war Vollmond. Tom hatte anfangs keine recht überzeugende Erklärung für ein Phänomen, das die thailändischen Fischer auf eine Algenart während einer bestimmten Meeresströmung, Katya eher auf die halluzinatorische Wirkung der "magic mushrooms" zurückführte. Als ihre nackten Körper in die dunkle Andaman Sea glitten, verursachte jede ihrer Bewegungen eine Explosion von Lichterteilchen im Wasser, die wie Aquamarine funkelten, manche auch wie Diamanten oder Fischschuppen, die strahlend aufglühten um nach kurzer Zeit - vielleicht drei, vier Sekunden - wieder zu erlöschen. Milliarden von Wasser-Glühwürmchen, die bei einer Berührung all' die Energie freizugeben schienen, die in ihnen steckte.

"Siehst Du das auch ?" fragte Katya ungläubig verwundert und kindlich begeistert zugleich. - "Ja, ich seh' das auch", erwiderte Tom, der gerade mit Armen und Beinen, Händen und Füssen eine glitzernde Korona um sich herum aufwirbelte und ein Phänomen von der Art zu sehen glaubte wie es Douglas Adams nicht besser hätte erfinden können: Zahllose fluouriszierende Wasserteilchen spiegelten das helle Mondlicht, die Milchstrasse oder ganz einfach das Universum wieder. Es faszinierte Tom derart, dass er darüber beinahe Katya aus den Augen verloren und es ihm fast - was die Aussergewöhnlichkeit dieses Ereignisses unterstreicht - die Sprache verschlagen hätte.

Er hörte sich schließlich im Zustand erweiterter Wahrnehmung wie aus einer großen Entfernung "geil...grell...galaktisch!" in die Nacht heraus rufen, während er Katyas Nähe suchte.

So schwammen, tauchten und flimmerten beide eine zeitlang nebeneinander, ihre Haut kräuselte sich, und sie lachten und schwiegen, verzaubert von der Unendlichkeit des Alls, das ihnen mit jeder ihrer Bewegungen "no limits" spiegelte, im Wasser und auf ihren Körpern, auf denen die Teilchen weiterglühten, bis sie in der warmen Luft trockneten und langsam erloschen.

Nach Stunden unendlicher Glückseligkeit im salzigen, warmen Wasser, ließen sie sich mit der schwachen Strömung wieder an den Strand spülen. Es mußte inzwischen früher Morgen sein. Kein Vogel, kein Ochsenfrosch, kein Gekko störte die Stille, als sich ihre Zehen wieder berührten und Katyas Lippen "komm" sagten. Mit einer kleinen Welle glitt sie auf ihn.

Das Fünf-Sterne-Resort-Hotel galt unter Kennern als das wertvollste Juwel der Kette. Über 200 Quadratmeter totaler Luxus - pro Gast versteht sich - verteilt auf drei feine, kleine Pavillons aus den edelsten Hölzern der hiesigen Tropenwälder gefertigt und mit erlesenstem Marmor Europas verfeinert und von kreativen australischen Architekten lustvoll und - wie zufällig - vom Reissbrett in die grüne Hügellandschaft mit verschwenderischer Vegetation gestreut. Jeweils 40 der Pavillon-Gruppen ergaben ein Dorf. 170 balinesische Diener sorgten in jedem der vier Dörfer mit präzisem Service rund um die Uhr für exclusiven Komfort in absolut privater Atmosphäre. Ab 250 Euro pro Nacht war man dabei. Man konnte hier Wochen verbringen ohne je einen anderen Gast zu sehen. 80 Gärtner durchstreiften täglich das Gebiet, um der jungen Wildheit des von ihnen gerade erst angepflanzten Dschungels mit Buschmessern und Macheten Einhalt zu gebieten.

Es war feucht und heiß. Neben dem Badebungalow, in dem Tom Traveller soeben im Begriff war, den letzten Schluck "Mai Tai" zu schlürfen, und der Dschungel-Dusche unter freiem Himmel, in der Katya gerade ihre Moskitostiche zählte, lag der zu jeder Villa gehörende Garten mit Wasserpflanzen, eigenem Pool, Orchideen, Farnen, Bananen, Palmen und einer Sonnenterrasse mit unvergleichichem Blick über die Bucht von Jimbaran, deren blendend weisse Strand, von seicht hereinrollenden Wellen geschaffen und schroffen Kalkfelsen gesäumt, Tom Traveller dazu inspiriert hatte, einen Roman zu schreiben.


Prison in Paradise



"Earth stream and tree encircled by sea

waves sweep the sand from my island.

My sunsets fade.

Grain after grain love erodes my

high weathered walls

which fend off the tide

cradle the wind

to my island.

Violet skies

touch my island, touch me."

(aus: „Islands", King Crimson)

Matt und satt lag Tom Traveller in der feuchtwarmen Mittagshitze im Schatten seines dunkelroten Sonnenschirmchens auf der geräumigen Veranda der Suite mit der Nummer 246 im Dusit Laguna Resort auf Phuket und blickte hinaus auf den Indischen Ozean . Das Hotelmanagement hatte ihn netterweise im Rahmen seiner grosszügigen Public-Relations-Aktivitäten zu einem dreitägigen Aufenthalt eingeladen, und Tom hatte dankend angenommen. Er lutschte die Praline, die ihm das thailändische Zimmermädchen gestern Nacht auf's Kopfkissen gelegt hatte, liess sie langsam auf der Zunge zergehen und genoss den cremigen Nougatgeschmack. Er liebte Pralinen. Und er liebte es zu träumen. Tom Traveller war ein Träumer.

In dieser Schokoladenminute träumte er, wie er vor knapp zwei Jahren an der Grenze zu Burma hartnäckig und erfolgreich um den kleinen dunkelroten Sonnenschirm gefeilscht hatte. Stolz hatte er ihn schliesslich von der burmesischen Frau auf dem Markt eines Flüchtlingslagers erstanden. Seitdem führte er stets zwei Schirme mit sich, wenn er reiste: den dunkelroten für die Sonne und einen hellgrünen, der dicht nebeneinanderliegende Bananenblätter abbildete, als Regenschirm.

So sass er jetzt da, wohlbeschirmt, neben der Schale mit Früchten, die der Etagenbutler gerade serviert hatte, und blickte hinaus auf's Meer ohne von dem Obst weiter Notiz zu nehmen. Wie gesagt, er träumte. Er träumte von den lachenden Bäuerinnen und den schnatternden Enten auf den Reisfeldern Indonesiens, von seinen ausgedehnten, einsamen bushwalks in Australien, von dem fetten Wildschwein, das er in Malaysia erlegt und als Geburtstagsessen für Maria zubereitet hatte und von dem Batikvorhang, den Walter ihm einmal in den Teebergen Sri Lankas geschenkt hatte und von dem es auf der Welt nur zwei Exemplare gab (den anderen hatte irgendsoein indischer Tourismus-Minister). Er träumte von den mühsamen Treks mit backpack und Patricia an der wilden, windigen und nassen Westküste der Südinsel Neuseelands und den heaps of sandflies, die ihnen erbarmungslos die Beine zerstochen hatten. Er träumte von dem abenteuerlichen Elefantenritt mit Jane im unwegsamen Dschungel Nordthailands und den Mountainbiketouren im Kathmandutal mit Katharina, von den durchtanzten Marijuananächten im Reggae-Pub auf Koh Samui mit Helen

- und von Anna.

Ach, was gäbe er jetzt um eine zweite Praline. Er würde sich wohl bis heute Abend gedulden müssen, oder ob man vielleicht den Butler danach fragen sollte? Mit leichtem Schwung erhob sich Tom aus dem Liegestuhl und stubste das Teakholztischchen mit dem Obst zur Seite. Langsam liess er sich dann bäuchlings auf den Teppich nieder (mäßige Qualität, höchstens 60 Knoten je Quadratzentimeter, einfaches Design, wahrscheinlich Kinderarbeit, erkannte er mit Kennerblick). Was für ein Tag war heute ? Der 20.? Oder schon der 21.? Er tippte mit dem linken kleinen Finger leicht auf die on-Taste seines Blackberry, und auf dem Display erschienen sein Name und Anschrift nebst seinen diversen Telefon- (einschliesslich Handy) und Faxverbindungen, eine kalendarische-Monatsübersicht und die aktuelle Ortszeit: 12.14 Uhr Bangkok. Er drückte langsam die Arme durch zum ersten von 21 Liegestützen. Morgen würde er - direkt nach der Sauna - im Gymnastikraum des Hotels etwas für seine Bauchmuskulatur tun. Mit seinem Bauch hatte Tom echte Probleme. Noch keine 22 und schon 'nen Ansatz! - Da musste er einfach etwas gegen unternehmen...9... 10...11 ..., immer wenn er die Arme ganz durchgedrückt hatte, konnte er durch einen schmalen Schlitz auf's Meer blicken...16... 17...18..., noch drei! Er hatte sich vorgenommen, diese Art von Muskeltraining einmal täglich durchzuführen, seit bereits erwähnter Orthopäde (die Füsse!) ihm geraten hatte, etwas für seine Oberarm-Muskulatur zu tun. (bei einem Sturz im Skiurlaub vor drei Jahren hatte er sich ein Band im linken Oberarm überdehnt und sollte so die Muskeln stärken) ...20...21! Geschafft! - Die Tatsache, dass er bis zum Ende des Monats jeden Tag einen Liegestütz mehr machen müssen würde, liess ihn einen Moment an der Richtigkeit seines Entschlusses zweifeln, die Aussicht auf den nächsten Ersten und auf einen kräftigen body versöhnte ihn jedoch schnell wieder mit diesem Vorsatz.

Nach getaner Arbeit setzte er sich auf die Balkonbrüstung und schaute auf's Meer. Alles war wieder ruhig heute. Keine Kriegsschiffe, keine Helikopter der thailändischen Marine und keine Koffer am Strand. Gestern Nachmittag hatte Tom Traveller von dieser Stelle mit dem Fernglas beobachtet, wie etwa 50 Touristen mit Schlauchbooten und einem Schnellboot der thailändischen Kriegsmarine vom Strand aus evakuiert worden waren (er hatte sich sogar die weisse Nummer am Bug notiert - es war die Nummer 629 - und nahm anfangs an, es handele sich wohl um eines der hier in dieser Gegen regelmässig aufkreuzenden Schiffe der US-marines, die hier zwecks Rest&Recreation einen kurzen stopover einzulegen pflegten).

Es hatte sich dabei um diejenigen Hotelgäste dreier nebeneinanderliegender Luxushotels gehandelt, die nicht länger Gefangne im Ferienparadies sein wollten. Sei es, weil sie ihre Flieger nach Frankfurt, Hongkong, New York oder Tokio erreichen wollten oder einfach keinen Bock mehr auf Knast hatten - Nougatpraline hin oder her. Und auch Toms komfortable Suite war durch den Akt der einheimischen Dorfbevölkerung zur Zelle geworden, das Resort zum Gefängnis !

Tom trug es mit Gelassenheit. Er hatte seit langem wieder einmal das angenehme und sichere Gefühl, Zeit zu haben. Er hegte keinerlei Fluchtgedanken. Ach ja, die Praline. Er zögerte einen Moment, gab sich dann aber einen Ruck und griff zum Hörer. Zwei Minuten später klingelte der Butler an der Tür seiner Suite.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Ausstattung seiner Zelle mit der Nummer 246 nichts zu wünschen übrig liess: Bar, Sitzgruppe, zwei TV-Sets, Audio-Tower mit CD Player, Videogerät mit bereitliegenden Filmen, unter anderen Casablanca in der englischen Originalversion, Mahagoni-schreibtisch mit Briefpapier, in dem oben links in goldenen Lettern Tom Traveller eingraviert war. Im zweiten Raum, dem Schlafzimmer, ein Canape am Fenster, im Zentrum ein riesiges Doppelbett mit Baldachin, eine Sitzgruppe. Dann das Bad - Ein Traum in weissem Marmor... Genug ! Abgesehen davon, dass einige Läden im einsam gelegenen Resort-Hotel während der letzten 48 Stunden geschlossen hatten und Tom übersät war mit Moskitostichen, schien die Versorgungslage gut zu sein.

Was war geschehen ?

Die Nabelschnur der erwähnten drei Hotels war eine schmale Strasse durch Lagune und Sümpfe. Diese Lebensader hielten vielleicht eintausend Thais aus den umliegenden Dörfern seit eben diesen 48 Stunen rund um die Uhr blockiert. Quer über die Strasse gelegte Bäume und Palmen, kleine Felsen und hunderte von motorbikes bildeten seitdem einen undurchdringlichen Wall. Niemand, der zu den Hotelanlagen wollte, durfte passieren und wer die Resorts einmal verlassen hatte, konnte nicht wieder hinein.

Diese für die 500 Insassen äusserst wichtigen Informationen erhielt Tom Traveller auf der wöchentlich stattfindenden Cocktailparty des Hotelmanagements für VIP's und geladene Langzeit-Gäste. Aurelio Ciocetti, Executive Assistant Manager, fragte sich nach zwei schnellen Glas Bier mehr oder weniger laut, warum die Polizei tatenlos zusehe ("Wenn die Leute ihr Land verkaufen, sind sie's doch selbst in Schuld. Verkauft ist schliesslich verkauft!") und ein nicht gerade zimperlich dreinblickender Hotelgast, der ein Glas Champagner fest umklammert hielt, forderte mit schweizer Akzent und unverhohlen: "Die Zufahrt muss freigeschossen werden !" - Stammtischlaune.

Am folgenden Morgen unternahm Tom Traveller einen kleinen Spaziergang zur Blockade.

Hinter dem Wall aus Stein, Holz und Mopeds erhebt sich ein grosses, rotes Zelt, in dem heisse Suppe und kühle Getränke gereicht werden. Tom schätzt die Menge auf etwa 300. Einige halten Spruchbänder in thailändischer Sprache hoch. Die Protestversammlung hat unübersehbaren Volksfestcharakter. Es wird lächelnd miteinander diskutiert und gestritten, am Rand stehen lächelnd ein paar Polizisten unter einer Palme. Klar: Thailand, Land des Lächelns, Phuket, Perle des Südens. Die Polizisten tragen Walkie Talkies und Waffen, haben aber offensichtlich strikte Anweisung nach den blutigen Erfahrungen der Mai-Unruhen, die bekanntlich zum Sturz der thailändischen Regierung führten, keinen Gebrauch davon zu machen.

Einer der Demonstranten winkt Tom zu und gestikuliert ihm, doch herüberzuklettern. So eine freundliche Einladung kann man nicht ausschlagen. Der Demonstrant erzählt ihm aufgeregt in gebrochenem englisch, dass ein Vertreter des Singapurer Geschäftsmannes Ho Chin Wah anwesend sei. Ihm sollen die Grundstücke gehören, um die es geht. Und für das Wochenende habe sich sogar der Ministerpräsident des Landes, Chuan Leek Pai, im Dorf angesagt. Das seien die neuen Zeichen der jungen Demokratie im Lande, heisst es. Das Volk könne jetzt mitreden, hört Tom als er sich scheu und still unter es mischt. Das Volk scherzt und lacht, es wird gespeist und getrunken. - Sommerfestlaune.

Als er im Zentrum einer Menschentraube anlangt, drückt ihm eine Thailänderin einen Zeitungsausschnitt in die Hand. Es handelt sich um einen ganzseitigen Artikel einer grossen, überregionalen Tageszeitung. Tom überfliegt die Seite: The Nation vom 30. November 1992, halbseitiges Farbfoto eines weissen Traumstrandes, Schlagzeile: "Phuket - Holiday Paradise where locals are banned". Im unteren Drittel fällt Tom ein Emblem mit sechs erhobenen Händen ins Auge, unter denen steht: "More Power To The People !" Die Thailänderin fragt Tom, in welcher der Hotelanlagen er denn wohne. Tom antwortet wahrheitsgetreu, worauf sie ihn in Preeda's Kitchen einlädt. Preeda´s Kitchen sei ihre offene Strandküche direkt zwischen zwei Resorts. Ihre grosse Sorge sei, dass sie ihre Thai-Küche schliessen muss, weil, wie sie sagt, den Hotelbetreibern ihre preiswerte Konkurrenz ein Dorn im Auge sei. Deswegen protestiere sie hier für ihr Recht auf Kochen.

Neben ihr hockt ein vielleicht vierzigjähriger Mann. Er sei Taxifahrer, sagt er und ihn ärgere, dass viele Wege für ihn gesperrt seien und nur von hoteleigenen Fahrzeugen benutzt werden dürfen. Dagegen protestiere er hier mit der Strassenblockade.

High noon. Essenszeit. Tom sitzt in Preeda's Kitchen unter einem Sonnenschirm und studiert den Zeitungsartikel. Der Autor, Rakkit Rattachumpoth beschreibt darin den wachsenden Unmut der Inselbevölkerung, viele ihrer Strände nicht mehr betreten zu dürfen. Jeder Tourist habe jederzeit freien Zugang zu jedem Strand in Thailand, den einheimischen Thais werde dieser Weg aber immer häufiger von den Sicherheitskräften der Hotels verwehrt.

Sucho Phongsanon, ein 38 Jahre alter Dorflehrer, wird zitiert: "Als ich jung war, sind unsere Lehrer mit uns hinausgezogen,um dort zu campen und zu übernachten. Es war immer ein grossartiges Erlebnis." Weiter erzählt er, dass er heute seine Schülerinnen und Schüler nicht mehr an diese Strände seiner Jugend bringen kann, weil an ihnen grosse, internationale Hotelketten ihre Häuser errichtet hätten.

Ruedee Phumphuthavorn., 42jährige Geschichtslehrerin an der hiesigen Satri Phuket School, klagt nicht ohne Sarkasmus: "Ich befürchte, dass meine Schülerinnen und Schüler in naher Zukunft darauf angewiesen sind, dass ich ihnen erzähle, wie unsere Strände aussehen und das Meer. Und das alles, weil eine handvoll Hotelbesitzer unsere Strände zu ihren Privatstränden gemacht haben."

Phukets internationales Tourismusgeschäft startete im Jahr 1972, als das erste Luxushotel, das Phuket Island, errichtet wurde. Die touristische Blüte der Insel begann aber erst 1987 mit einem vorher nie erlebten Zustrom ausländischen Kapitals. Die Statistiken wiesen einen rasanten boom nach dem anderen aus. Anfang der neunziger Jahre reisten jedes Jahr mehr als 1,3 Millionen Touristen in das südthailändische Urlaubsparadies und liessen pro Jahr mehr als 330 Millionen Euro auf der Insel zurück. Ein Ergebnis des Thai And International People's Forum On Third World Tourism Ende November 1992 auf Phuket war jedoch: nur ein verschwindend kleiner Teil dieses Geldes landet in den Geldbeuteln der einheimischen Bevölkerung. Das grosse Geld wandert in die Geldsäcke nach Singapur, Hongkong und Tokio.

Toms Thai Essen in Preeda's Kitchen ist vorzüglich: Tom Yam Khung, eine herzhafte, erfrischend scharfe Suppe, bestehend aus Pilzen, Tomaten, Schalotten, Zitronengras, Bergamottblättern, Chili, Limonensaft, Kokosnussmilch, Fischsauce, Korianderblättern sowie Petersilie und Shrimps als Einlage. Dazu duftig leicht gebratener Jasminreis mit winzigen Hähnchenstückchen, gewürzt mit Strandluft, Sonne und Meersalz und ein kühles Singha Bier. Mit 2,50 Euro ist Tom Traveller dabei. Im Hotel-Resort nebenan hätte er ein ähnliches Vergnügen für 12,50 Euro gehabt, falls der Vergleich erlaubt ist. Allein das Bierchen kostet im Hotel 2,80 Euro.

Mit der Rechnung legt Preeda auch ihr Gästebuch vor. Die letzte Eintragung stammt vom 8. Dezember: "Die Regierung sollte für ihr Volk sorgen und es nicht von den Stränden vertreiben, um Platz für die Reichen zu schaffen. Denkt zuallererst an die einheimische Bevölkerung !" Unterschrieben ist dieser Appell von einem Paul Alexion aus Sydney. Ein anderer Tourist schrieb tags zuvor: "Preeda's Kitchen soll genau da bleiben, wo sie jetzt ist. Wir schätzen es sehr, eine Auswahl zu haben und nicht nur von der Monopolstellung der grossen Hotels abhängig zu sein."

Preeda, Anfang 30, verheiratet und Mutter von zwei Söhnen im Alter von acht und elf Jahren, hat bis vor fünf Jahren als Bau-helferin gearbeitet. Dafür bekam sie 80 Baht, umgerechnet etwas mehr als zwei Euro Tageslohn. Mit dem, was ihr Mann dazuverdiente, konnte die Familie gut leben. Mit dem Touristenboom auf der Insel entschloss sie sich, selbständig zu werden und eröffnete Preeda's Kitchen dort, wo die Strandküche auch heute noch ist. Anfangs nur mit zwei Tischchen, einigen Palmzweigen und Bananenblättern als Dach, im Dezember 1992, kurz vor ihrer fünften Touristensaison zwischen Weihnachten und März, wartet sie schon mit zehn Tischen und einem reichhaltigen Angebot an Thai-Food auf. So verdient Preeda 200 Baht am Tag. An guten Tagen sind es sogar 400 bis 500 Baht, also etwas mehr als 15 Euro.

"Es gibt keine Pläne, die Strandküchen zu entfernen, und wir haben auch niemals der einheimischen Bevölkerung untersagt, den Strand vor dem Hotel zu benutzen, und wir werden das auch in Zukunft nicht tun", versichert der Geschäftsführer des Dusit Laguna Hotel Resorts, David Good, als Tom ihn auf die Blockade der Zufahrt anspricht. Sein Kollege von Sheraton Grande Laguna, Michele Cottray, verkündet Tom während eines Strandspaziergangs während der Blockade: "Der Eigentümer wird auf die Forderungen der Dorfbevölkerung eingehen. Strassen und Strände sind für alle da".

Satt , faul und träge sitzt Tom Traveller auf dem Balkon in der schwülwarmen Nacht. Von Preeda's Kitchen zurück ins Kittchen. Zelle 246. Vom Ende der Blockade keine Spur. Tom hat jetzt viel Zeit über alles nachzudenken Der Eagles-Song vom Hotel California kommt ihm in den Sinn, „where you can check in - but you never leave...". Vom Balkon der Nachbarzelle # 248 blickt Kathleen M. Burns von der Washington Post versonnen auf's Meer. Auch sie scheint zu träumen.

Donnerstag, 11. Oktober 2007

California Dreamin´

"Stars shining bright above you

night breezes seem to whisper: I love You.

Birds singing in the sycamore tree

dream a little dream of me.

Say nighty-night and kiss me.

Just hold me tight and tell me you' ll miss me.

While I'm alone and blue as can be

dream a little dream of me.

Sweet Dreams till sunbeams find you

sweet dreams that leave all worries behind you

but in your dreams - whatever they'll be:

dream a little dream of me!"

Ich fahre auf der Golden Gate Bridge durch eine dichte Nebelwolke. Ich habe einen x-beliebigen der -zig Radiosender eingeschaltet als es passiert: Es ist wie ein Traum, wie für mich arrangiert, wie ein musikalischer Brückenschlag zwischen 1967 und heute, genau 40 Jahre später: Im Radio läuft genau in diesem Moment, in dem ich die Wolkenwand durchbreche und die Stadt unter blauviolettem kalifornischem Himmel vor mir liegt, die passende Begrüßungsmusik:


"If you're going to San Francisco

Be sure to wear some flowers in your hair

If you're going to San Francisco

you gonna meet some gentle people there

Gentle people with flowers in their hair"

(aus: San Francisco", Scott McKenzie)

Natürlich hab´ ich auch Blumen im Haar: Es sind die blauvioletten Blüten einer kalifornischen Heavenly Blue Morning Glory. Die richtige Einstimmung für Tom Travellers Recherchen in Sachen Flower Power. Hier & jetzt in Nordamerika auf der Suche nach den Hippies und was von ihnen übriggeblieben ist. Das hätte sich der kleine Tom auch nicht träumen lassen - Was waren das wohl für Leute, diese Flower Power People ?

"All across the nation

such a strange vibration

people in motion

there's a whole generation

with a new explanation

people in motion

people in motion"

(aus: "San Francisco", Scott McKenzie)

Was waren das für strange vibrations, die eine ganze Generation in Bewegung gebracht haben? Alles, was ich über die Hippies weiß, weiß ich aus zweiter Hand, aus der Zeitung.

Die Reporter, die im Sommer 1967, dem Höhepunkt der amerikanischen Hippie-Bewegung, nach San Francisco kamen, fanden die 75.000 jungen Leute im Golden Gate Park, oder im schillernden Viertel um die Straßen Haight und Ashbury, entweder beängstigend oder amü-sant, auf jeden Fall aber ziemlich verrückt: Die Journalistin Sabina Lietzmann beschreibt 1967 ihre Haight/Ashbury-Eindrücke in der FAZ so:

"Wir sind in eine Hippie-Kommune geraten, in eine Lebens- und Wohngemeinschaft von jungen Verächtern der bürgerlichen Gesellschaft. Schlägt man den Batik-Vorhang zurück, der hier als Tür dient, herrscht zunächst Finsternis. Bevor das Auge sich orientieren kann, werden Geruchssinn und Gehör berührt. Es riecht nach Weihrauch und anderen betäubenden Räucherhölzern, dazwischen zieht in Schwaden der süßliche Geruch von Marihuana-Zigaretten heran. Fernöstliches Saitengeklimper zirpt aus der Musikanlage, aber offenbar wird gerade irgendwo Band oder Platte ausgewechselt, denn jetzt dröhnt ohrenbetäubender Rock and Roll heran. Nun nehmen wir auch die Gestalten wahr, die am Boden hocken oder liegen, auf Kissen, Teppichstücken oder auf der blanken Diele. Junge Leute mit Cherubsgesichtern, die von Locken gerahmt sind, bestickte Stirnbänder um den Kopf, Ketten aus dicken Perlen um den Hals und Glöckchen an den Füßen. Ein Knabe hat den nackten Oberkörper mit Blumen bemalt, und ein Paar, dem ein schlafender Säugling vor den Füßen liegt, starrt blicklos glasig vor sich hin, offenbar ´high´ auf einem ´trip´".

Der Stern schreibt 1967 über die Hippies von San Francisco:

"Die Hippies sind Nachfahren jener amerikanischen beatniks, die entdeckt hatten, daß man nicht unbedingt im amerikanischen Lebensstil leben muß, um glücklich zu werden. Sie entziehen sich der Tretmühle Arbeite-und-zahle-Steuern so weit wie möglich, weil sie weder breiteren Straßen für mehr Autos noch größeren Fabriken für bessere Kanonen etwas abgewinnen können. Sie leben anspruchslos in anspruchslosen Buden, schreiben Gedichte, machen Musik und malen."

Schnell werden die Hippies zu einer anziehenden Jugendbewegung. Immer mehr kids pfeifen auf ein wohlbehütetes bürgerliches Leben in der amerikanischen Wohlstandsgesellschaft, pfeifen auf den gedeckten Tisch ihres Elternhauses, lassen Schule oder Arbeit sausen, packen Kerzen und Räucherstäbchen in ihre Rucksäcke und raffen sich auf zu einem langen trip. Ziel der Jugend Amerikas ist die Westküste, ist San Francisco.

"This following programme is dedicated

to the city and people of San Francisco

who may not know it, but they are beautiful .

And so is their city.

This is a very personal song,

so if some of You cannot understand it,

particulary those of You, who are european residents,

save up all your bread

and fly TRANSLOVE AIRWAYS to San Francisco USA.

- Then maybe you'll understand the song.

It will be worth it.

If not for the sake of this song

but for the sake of Your own peace of mind."

(aus: "San Franciscan Nights", Eric Burdon)

Weiter schreibt der Stern 1967:

"Ihre Bewegung nennen sie ´flower power´ - eine Analogie zu der Negerbewegung ´black power´. Die flower children predigen aber nicht Gewalt, sondern Liebe. ´Make love not war´ ist einer ihrer Slogans. Gelegentlich mischen sie sich unter politische Demonstranten, Atomwaffengegner zum Beispiel, Vietnamkriegsgegner oder unter die amerikanischen Bürgerrechtler. Sie schmücken sich mit Blumen und verteilen sie an Passanten und Polizisten. Der Begriff ´hippie´ entstammt der Sprache schwarzer Jazzmusiker im Amerika der dreißiger Jahre und bedeutete in seiner ursprünglichen Form `hip´ soviel wie ´weise´ und ´erfahren´. Hippies reisen viel - von San Francisco nach London, von London nach Amsterdam, von Amsterdam nach nach Kathmandu, von Kathmandu nach San Francisco."

Das ist in irres Gefühl, in so alten Zeitungen zu stöbern, sag´ich euch. Jugendliche aus ganz Amerika liessen sich in den sechziger Jahren die Haare wachsen, hüllten sich in weite Kleider und hängten Ausbildung oder Beruf ersteinmal an den Nagel. Es waren die dropouts, die Aussteiger. Leute, die die Nase voll hatten von zuhause, die ihren eigenen american dream von Freiheit und Abenteuer träumen - und abhauen.

"On a dark desert Highway

cool wind in my hair

warm smell of collitas

rising up to the air.

Up ahead in the distance

I saw a shimmering light

my head is going heavy

and my sight is going down

I had to stop for the night.

There she stood in the doorway

I heard the mission bell

and I was thinking to myself:

this could be heaven

and this could be hell.

Then she lit up a candle

and she showed me the way

therewere voices on the corridor

I thought I heard them say:

Welcome to the Hotel California !"

(aus: "Hotel California", The Eagles)

Ich stelle mir die Hippies ziemlich genauso vor, wie die jungen Penner am Kölner Hauptbahnhof oder die freaks aus der Kölner Bauwagensiedlung in ihren wunderschönen, teilsweise sicher selbstgebauten Holzwagen mit Sofas, Tischen, Kuschelecken unter hohen Bäumen im Volksgarten, wo ich sie zuletzt gesehen habe: eine wilde, schöne Mischung aus Zigeuner-Platz, Wanderzirkus und Baustelle. 20 bis 30 junge Freaks, Penner, Musiker, Philosophen, Säufer, Junkies, Katzen, Hunde und Ratten leben in ihren Wagen.

Das müssen so Typen wie die Beatniks und Hippies mit genau den Wünschen und Lebensentwürfen der sechziger Jahre sein, denke ich mir. Ich habe in Köln vor meinem Trip in die Staaten jemand getroffen, die ein bißchen mehr von den Hippies und Beatniks weiss, als ich, die TV-Journalistin Andrea Reischies. Ich hab´ sie interviewt, und das hat sie mir ins Mikrophon erzählt:

"Ich bin Andrea Reischies. Ich war 1966/67 in den USA, in Kalifornien als Austauschschülerin. Drogen waren natürlich verboten. Klar. Man durfte nicht mit Pfennigabsätzen in die Schule gehen. Man mußte Sandalen anziehen, die hinten 'nen Riemen hatten, damit se nich klappern. Wenn man in die Schule kam, dann mußte man stehen, wenn der Lehrer reinkam. Das war bei uns auch schon längere Zeit vorher abgeschafft worden. Und jeden Morgen vor dem Unterricht standen wir alle auf und sagten ´I pledge religion to the flag of the United States of America´ undsoweiter. Alkohol war unter 21 gänzlich verboten.

Rauchen unter 18 verboten. Wenn man erwischt wurde, wurde man drei Tage von der Schule suspendiert. In meiner Schulklasse waren die Jugendlichen alle so um die 16 bis 18. Ich hab' immer gedacht: Mensch irgendwo muß sich doch hier das Leben abspielen! Das kann doch nicht die Schule gewesen sein! Das kann doch nicht dieses Leben zuhause in unserem Häuschen sein und dem sonntäglichen Gottesdienst und war dann zum Beispiel auch mal inner Disco. Das war so'n vielleicht ganz bezeichnendes Erlebnis. Da spielte die Hot Chocolate Watch Band und ich hatte mich riesig drauf gefreut.

Das war 'ne Riesen-Discothek, ja mit Live Musik und mit Tanz und irgendwie so'n Raum, wo man rumsitzen und quatern konnte. Und dann hab' ich sofort bemerkt, daß ringsrum Bullen standen bis an die Zähne bewaffnet und ich mich schon einigermaßen irritiert fühlte - übrigens, was ich vergessen hab' zu sagen: auch da war diese Disco unterteilt, muß man sich vorstellen, von den Leuten bis 21 und ab 21, weil in dem einen Raum ja kein Alkohol getrunken werden durfte. Eigentlich hätten se jetzt noch die von 18 bis 21 trennen müssen wegen Rauchen, ne, aber das ham se wohl gelassen.

Jedenfalls in dieser Jugendlichen-Disco mit der Live-Musik standen die Bullen und ich hab' se gefragt ´warum seid ihr da ?´ und die ham gesagt, ja, es würde eben soviel gekifft und Alkohol getrunken, obwohl es eben verboten wär', daß es jederzeit zu Auseinandersetzungen käme und sie eben vorbeugenderweise da wären.Diese ganze Gesellschft, so wie ich sie erlebt habe, die muß einfach dazu reizen, was anders zu machen und das ganze zu boykottieren.

Also man muß da einfach Unsinn machen. Das kann man gar nich aushalten! Hätte ich da die ganze Zeit gewohnt, weiß ich nicht, ob ich dann so angepaßt gewesen wäre wie meine Mitschüler oder ob ich nicht auch rebelliert hätte und auch Schule Schule sein lassen und mich nach San Francisco abgesetzt hätte. Keine Ahnung. Und das war damals übrigens auch 'ne Diskussion, ne, ob das so sinnvoll ist, die Schüler jeweils so in ihren Ghettos zu halten, ne. Und, also das nimmt einem dann einfach auch die Stimmung. Sicherlich provoziert es die Jugendlichen dann erst recht, irgendwie Shit zu rauchen oder so, um zu gucken: wie weit komm' ich damit. Es ist wirklich so ein Unterschied gewesen zwischen dem, was sich da im Zentrum von San Francisco abgespielt hat und sozusagen unserer Vorstadt San Jose, das ist unbeschreiblich ! Also ich war öfter da, immer mit meiner Familie allerdings, da ham wer natürlich viel angeguckt, aber sind immer einen großen Bogen um Haight/Ashbury gefahren. Wir sind dann mal heimlich da gewesen und ich hatte das Gefühl, also ich bin irgendwie weg aus diesem puritanischen San Jose und diesem Schulalltag: da waren kleine Cafes und Buchläden und Flugblätter wurden verteilt und da liefen eben wirklich die Hippies rum, beziehungsweise, äh, damals ham wir ja immer noch Beatniks gesagt. Hippies hab' ich mal definiert als die ´ernsthaften Beatniks´. Die wollten eben wirklich ein anderes Leben führen. Dat war nich einfach nur, daß se sich ein paar Sandalen, die hoch geschnürt waren, angezogen haben, sondern die hatten da auch eben wirklich was vor im Kopf und 'ne andere Philosophie."

"Support the native people

they'll watch out for you

support the latino people

their spirit will be with you !

Support the livin'

in the cities' ghetto

of Central L.A..

Support the farmers.

Why ? Hell ! - They take care of you !

Support the rastas

support the old folks

they'll bring the wisdom along !"

(David Whitaker)

In alten Zeitungen zu stöbern und Leute aus der Zeit zu interviewen, ist ´ne gute Sache, besser ist aber immer noch der eigene Eindruck. Haight/Ashbury will ich mir schon lieber selber angucken als mir bloss Geschichten darüber anzuhören. Und da geschieht zum zweiten Mal auf dieser Reise etwas ziemlich Ungewöhnliches: Ein drahtiger Kerl steht plötzlich vor mir im Hippieviertel von San Francisco und lacht mich an. Auf seiner dunklen Jacke steht in allen Regenbogenfarben: Beatniks, Hippies, Punks and Skins - a free Rainbow Generation ! Er hüpft auf dem Gehweg der Haight Street wieselflink von einem Bein auf's andere. Genauso habe ich mir immer Rumpelstilzchen vorgestellt !

"Bist du Franzose ?", fragt er mich und streckt mir seine Rechte entgegen.- "Angenehm, Tom Traveller, Reporter. From WDR Cologne, Germany", antworte ich, knapp und ein wenig genervt von seiner ewigen Rumhüpferei. -

"Ah, ein Deutscher ! Wie geht's ? Hey, wenn du was über mich lesen willst, dann guck einfach in irgendeine Biographie über Bob Dylan und such´ nach David Whitaker. Yeah, da kannst du lesen wie alles angefangen hat, man."

- Ein hellwacher Mann voll power ! - David Whitaker also. Nie gehört. Aber sein Tip mit der Bob-Dylan-Biographie ist gut. Ein bißchen lesen kann nicht schaden. Auf der anderen Straßenseite sehe ich auch schon den geeigneten Buchladen. Aber David hüpft mir in den Weg und stellt sich vor: David Whitaker, 54 Jahre alt, Dropout, Beatnik, Digger, Hippie,

"Bürgermeister" von Haight Ashbury - und Poet. Kaum hat er das ausgesprochen, schnappt er sich frech mein Mikrophon und legt rappend los:

"Support the kids

hip-hoppin', punk-rockin', rappin'.

Support the kids and they'll be right there by your side.

Support the people and they'll support you.

You are so many to oppose the few

(I'm talking about the rich motherfuckers up there).

Feed the people

they'll feed you

like the Diggers

´food not bombs´

encourage one another

support one another

love one another

families, tribes, communities"

I believe in that.

But borders - just a line on their map

let live flourish !

We are brought together for a reason

and that reason is:

we complete one another

like Yin and Yang

old and young

man and woman

Rock 'n' Roll"

(David Whitaker)

Wer ist dieser Mensch ? Er macht mich neugierig. Bürgermeister der Hippies ? - Eigentlich genau das, was ich suche. Vielleicht kann er mir helfen und ein bißchen erzählen, was vor 25 Jahren hier los war und was davon übriggeblieben ist. David Whitaker überlegt nicht lange und sagt sofort zu - aber nicht heute. Er ist auf dem Weg zu einer Demo, um gegen die Verhaftungen zu protestieren. Ich hab' keine Ahnung worum es geht.

"Ich seh dich morgen !", ruft er mir im Weggehen noch zu. "Hol mich doch bei mir zuhause ab: 984 Valencia, direkt neben dem Glaser-Geschäft, dann zeig' ich dir meine Stadt !" und verschwindet an der nächsten Kreuzung in der Ashbury Street. - Weg isser.

Was hat er da erzählt von wegen Bob Dylan-Biographie und das er auch drin vorkommt ? - Ich bin ein bißchen skeptisch und mein Blick fällt wieder auf den Buchladen gegenüber. Great Expectations - Haight&Ashbury Bookstore steht über der schmalen Holztür. Ich bin gespannt. Drinnen frage ich nach irgendeiner Dylan-Biographie. Der Händler - Typ Nickelbrille, lange Haare, dunkler Vollbart - murmelt den Namen Bob Spitz und zeigt auf eines der hohen Regale. Auf einem der Buchrücken lese ich in Großbuchstaben DYLAN. Na also. "Bob Dylan - eine Biographie von Bob Spitz". Ich blättere ein bißchen in dem dicken Wälzer und bleibe auf Seite 93 hängen:

"Eines Abends, es war Mitte März 1960, drängte Gretel Bob Dylan, mit ihr auf die Party einer Schulfreundin zu gehen. Als die beiden dort ankamen war ihnen sofort klar, daß dies der ödeste Ort in der Stadt war. Studenten standen in kleinen Gruppen zusammen und redeten über Chruschtschow, die Pille und den militärisch- industriellen Komplex.

Keine Gitarre weit und breit. Der übliche Haufen intellektueller Quadratköpfe...mit Ausnahme eines quirligen kleinen Burschen mit dem Namen David Whitaker, der durch das Zimmer hüpfte. David Whitaker war ein wirklich ungewöhnlicher Zeitgenosse - ein Energiebündel, wild, ungezähmt. Ein begnadeter Geschichtenerzähler, der stundenlang von seinen Reisen und Abenteuern erzählen konnte.

Sein Vater war Jude, seine Mutter indianischer Abstammung. 1957 hatte es ihn nach San Francisco gezogen, wo er sich den Beatniks anschließen wollte. Beatniks waren die Geschlagenen und Ausgestoßenen, die Beat Generation. Es war eine jugendliche Subkultur, die sich von den damaligen bürgerlichen Normen abwandte. Es war die Protestbewegung der späten 40er Jahre, deren Lebensgefühl vor allem vom Pazifismus geprägt war. Es war eine produktive kulturelle Strömung. Ein Schlüsselwerk ist der Roman ´On the road´ von Jack Kerouac.

Alan Ginsberg war in den 60er Jahren Sprecher dieser Protestbewegung. Die Beatniks begehrten auf gegen das Establishment und suchten Bewußtseinserweiterung durch Drogen und Meditation."

David und Meditation - zwei Welten prallen aufeinander. Aber es ist eindeutig der Typ, den ich vor ein paar Minuten auf der Haigt Street getroffen habe. Meine Erwartungen steigen, Great Expectations. Ich blättere weiter in der Dylan-Biographie.

"Bob und David wurden unzertrennliche Freunde. Sie hingen jeden Tag gemeinsam irgendwo rum. David der Lehrer und Philosoph, Bob sein ergebener Student. Er erzählte von Marx und Lennon und wurde Bob Dylans erster wichtiger Guru. Seine Geheimwaffe war der Samen von ´Heavenly Blue Morning Glory´, der natürliche Grundstoff für LSD. Bob war jungfräulich und wußte nichts ! Whitaker drängte ihn, seinen Horizont zu erweitern, nahm ihn mit auf seine erste Demonstration. Gemeinsam erforschten sie die Musik Jimmy Rogers. Gedichte von Allen Ginsberg verschlangen die beiden regelrecht. Und Bücher.

Whitaker war eine Leseratte. Es ging das Gerücht um, daß sein Name auf keiner Ausleihkarte einer Bibliothek fehlte. So fand Bob Dylan den Schlüssel seines eigenen Daseins, eine Lebensphilosophie, die er greifen konnte.

Eine alte Ausgabe von Woody Guthries ´Bound for Glory´. Bob Dylan hatte seinen Gott gefunden. Guthrie hatte geschrieben, wovon Dylan nur träumte. Tröstende Worte, Ermu-tigung und Unterstützung für all' die, die mit Geld und Karriere nichts am Hut hatten: die kleinen Leute, Bauern, Malocher, Cowboys, drifters and dreamers, Streuner und Träumer. Woody's Lieder waren geradeaus und brachten es auf den Punkt.

Wenn man seiner Musik lauschte, entstanden schöne Bilder vom Leben auf dem Lande, wie-tes, offenes Land from California to the New York island, from the redwood forest to the Gulfstream waters. Musik machte ihn an. Bob Dylan lebte in dieser Musik, atmete sie ein und aus und merkte nicht einmal, daß David Whitaker ihm seine Freundin Gretel ausspannte und sich in eine heiße Liebesaffaire mit ihr verstrickte.

Es war der 20. Mai 1960 als sie es ihm beichteten: Gretel war schwanger. Wie konnten Gretel und David so etwas tun ? Obwohl seine Beziehung zu Gretel platonisch war, betrachtete Bob sie als seine Freundin, auch wenn sie nie miteinander geschlafen hatten. - Und David ! Sein bester Freund ! Er fühlte sich betrogen:

"You better talk to her ,buddy

you're her Lover now

everybody that cares

is going up the castle stairs

but I'm not locked in a castle honey

it's true: I just care for your call.

San Francisco at all

I can't even remember El Paso! Uh honey!

You never had to be faithful

I never wantet you to grieve

oh why was it so hard for you ?

If you don't wanna be with me:

Just leave !"

(aus: "She´s Your Lover Now", Bob Dylan)

"David Whitaker schien alles zu gelingen, was er sich in den Kopf gesetzt hatte: er war gebildet, belesen wie kein anderer, konnte sich ausdrücken, war innovativ und arrogant, nahm sich, was er brauchte - aber er war nicht ehrgeizig. Ihm fehlte diese Eigenschaft, die das alles zusammenhalten konnte: Leidenschaft. - Dylan aber brannte vor Leidenschaft. Er war ein Träumer und er träumte von einer Karriere als leidenschaftlicher Poet und Sänger. Und er brauchte es, daß seine Träume wahr würden.

Bob Dylan hatte 1964 damit begonnen, unter dem Einfluß von LSD zu schreiben und es bestand kein Zweifel daran, daß LSD seine Songtexte drastisch verändert hatte. Die halluzinatorischen Eigenschaften dieser bis 1966 legalen Droge eröffneten ihm völlig neue Landschaften der Poesie. Die Qualität seiner Songs veränderte sich, seine Lieder wurden persönlicher, feinfühliger, farbiger, brillianter. Im August 1964 traf Dylan John Lennon und mußte feststellen, daß die Beatles Jungfrauen in Sachen LSD und dope waren. Die Beatles hatten noch nie dope geraucht! Unglaublich - Jungfrauen!

Bob Dylan ließ es sich nicht nehmen, drehte ein paar joints, zeigte Ringo wie man richtig inhalierte und führte die Beatles damit feierlich ins Zeitalter der Drogen ein. - Der Sommer 1967 zog die Aufmerksamkeit weg von Bob Dylan und lenkte das öffentliche Interesse zu einem anderen Kulturphänomen - den Hippies. Amerikas Blumenkinder standen plötzlich im Rampenlicht und ihre Musik war der Rock 'n' Roll.

Zweifellos war dies die Musik des Sommers der Liebe. Musik vom Feinsten. Es war die Glanzzeit des Rock 'n' Roll: The Rolling Stones, das Album ´Sgt. Pepper's Lonely Heart's Club Band´ von den Beatles, The Mamas and the Papas, Jimi Hendrix und Jefferson Air-plaines ´Somebody to love´".

Die Blumenkinder essen Love-Burgers, hauchen dem Besucher ein fröhliches drop out, turn in, tune in ! entgegen. Zu deutsch frei übersetzt etwa: "Steig aus und komm zu uns ! Klink dich ein !" . Die Hippies versammeln sich im Sommer der Liebe zu Massenkonzerten in den Parks von San Francisco und geben freizügig jedem und jeder zu essen und zu trinken, was sie zuvor im Supermarkt gekauft oder auch einfach so mitgenommen haben:

Drop out, turn in, tune in. Auch hier ist ein Tisch gedeckt und an der frischen Luft schmeckt es sowieso viel besser als bei Papi und Mami ! Und nicht nur zum Thanksgiving - Fest holt man hier die Armen und Ausgestoßenen an den Tisch zum Truthahn-Mahl. Hier sind alle eingeladen. Jederzeit. Umsonst und draußen. Einen ganzen Sommer lang. Kommt nach San Francisco ! Der Ein-tritt ist frei!Welcome to the Hotel California.Welcome to The Summer Of Love!

"Welcome to the Hotel California

Such a lovely place

such a lovely face

plenty of room at the Hotel California

any time of the year

you can find it here"

(aus: Hotel California, The Eagles)

Ein Hippie-Komittee mit der programmatischen Namen Summer of Love sucht im Mai 1967 kostenlose Quartiere für das größte Hippie-Festival, das die Welt je gesehen hat. Das Kommitte sucht außerdem ein geeignetes Gebäute für ein Hippie-Hotel California. Die Free Clinic behandelt tausende von Patenten kostenlos.

Die Diggers kommen mit der kostenlosen Essenverteilung kaum nach. Erwartet wurden ein paar zehntausend Blumenkinder - es kommen 75.000! Die Generation der 15 bis 35jährigen findet die Freiheit, die sie sucht und auch das Abenteuer: Sie ruft die sexuelle Revolution aus und genießt die freie Liebe ausgelassen und splitternackt unter klarem, kalifornischem Himmel.

Es ist wie ein Traum in düsteren Kommunen beim süßen Duft von Räucherstäbchen und psychedelischer Musik. Die einen versuchen, bewußt zu leben und zu genießen, was es zu genießen gibt. Die anderen führen politisches Straßentheater auf, machen sich lustig über die Polizei oder blockieren die Universität von Berkeley mit einem gewaltfreien sit in und werden von der Polizei verprügelt.

So demonstriert die nordamerikanische Jugend der Mitt-Sechziger spektakulär gegen das establishment und engagiert sich phantasievoll für gleiche Bürgerrechte und Freie Meinungsäußerung. Oder sie protestiert am Oakland Army Terminal, wo Männer und Munition nach Vietnam ausgeschifft werden, gegen den Krieg . Die beiden Zentren der neuen Jugendbewegung sind San Francisco auf der einen und Berkeley auf der anderen Seite der Bay, nur 5 Meilen voneinander entfernt.

Hier ist es das Straßenviertel um Haight- und Ashbury Street, dort ist es das Universitätsgelände, der Campus. Zusammen sind diese beiden Bewegungen schlicht The Movement und beinflussen sich gegenseitig in den Jahren bis 1969, der Zeit der großen Jugendrevolte.

Und das nicht nur in den Vereinigten Staaten von Amerika. Auch in Asien und Europa sind die vibrations, die Erschütterungen, die kalifornischen Beben zu spüren. Sie beeinflussen das Fühlen, Denken und Handeln einer neuen Generation. LOVE & PEACE sind angesagt.

Es ist eine neue Generation im Aufbruch, durchaus auf der Suche nach Freiheit und Abenteuer, dem american dream, aber auch mit einer großen Sehnsucht nach einer Alternative zum american way of live der Eltern. California dreamin´ ist angesagt. Die kids träumen den süßen Traum vom harmonischen Miteinander ganz unterschiedlicher Menschen, der sie morgen bis nach Woodstock bringen wird - und übermorgen noch viel weiter.


Freitag, 5. Oktober 2007

Ich grüße den Gott in Dir


Wahre Geschichten vom einfachen Leben in Nepal

Von Blumenkindern, kleinen Göttinnen und dem Glück. Von einer großen kleinen Revolution in einem kleinen großen von der Welt fast nicht beachteten Land, von Misha und ihrem Büffel, den sie liebt, weil sie ihn braucht und einer abenteuerlichen Busfahrt gaanz oben auf dem Dach (…der Welt)

"Bekifft

auf´m Himalaja

zu sitzen

is bestimmt

ein geiles Gefühl

gewesen."

(Jung-Hippie im Sommer 2007
auf der „Hohe Straße“ in Köln )

Ort: Kathmandu, Nepal. - Zeit: Fünf Uhr nachmittags, nach der Arbeit.

Büffelwäsche am Bagmati-Fluß im Zentrum Kathmandus. Ein zehnjähriges Mädchen steht breitbeinig vor einem Wasserbüffel. Hin und wieder schaufelt es mit beiden Händen Wasser über das Büffelgesicht. Minutenlang. Dann watet das Kind zum Ufer und rupft ein paar Grasbüschel aus dem Schlamm. Der Büffel-Bulle suhlt sich derweil im seichten Fluß.

Das Mädchen, sie heißt Misha, kommt zurück und schrubbt zärtlich Nacken, Stirn und Wangen des Tieres. Dann rubbelt sie fester an den Bakkenknochen, sanft am Mund. Der Büffel öffnet langsam das Maul einen Spalt weit. Weiche Wassergüsse benetzen nun die geschlossenen Augenlider, die Brauen, die Stirn, die Ohren, den Nacken, den Hals. Dann kniet Misha sich auf die linke Schulter des Tieres und reibt Flöhe, Zecken und eingetrockneten Dreck aus der Haut des mächtigen Büffel-Bullen.

Jetzt setzt sie sich rittlings auf den Büffelrücken, walgt und knetet ihn und rutscht dabei - nach und nach - weiter nach hinten, scheuert und schabt, streichelt und massiert das gewaltige Tier mit Händen und Füßen. Mit einer Hand streichelt sie schließlich sanft seine Lippen. Der Büffel-Bulle scheint dies mit all´ seinen Sinnen zu genießen. Für ihn ist es das erholsame Ende eines langen Arbeitstages in den Reisfeldern des fruchtbaren und immergrünen Kathmandutals an den Füßen der höchsten Berge der Welt, des Himalaja.

Diese sanfte Prozedur dauert etwa eine Stunde. - Später erzählt Misha, daß sie den Büffel liebe. Sie liebe den Gott in ihm. Sie liebe ihn, weil sie ihn brauche. - Ohne Büffel keine Reisernte, ohne Reisernte keine Rupees, ohne Rupees kein Gemüse, keine Hühner, keine Ziege, keine Schokolade, kein khushi - also kein Glück. Dann lacht sie selbstbewußt und keck zu uns herüber und ihre Zähne strahlen mit dem Eis der Achttausender um die Wette. Namaste - ich grüße die Göttin und den Gott in Dir.

*

„Ich grüße den Gott und die Göttin in Dir“. - Spiritualität ist im Himalaja allgegenwärtig. Die damit verbundene Ausstrahlung von Wärme und Würde, Güte und Gelassenheit ist vielleicht das, was viele Besucher so beeindruckt und die Bewohner der Bergregionen so anziehend macht. Sie glauben, daß Pflanzen und Tiere eine Seele und göttliche Eigenschaften haben. - Namaste, ich grüße die Göttin und den Gott in Dir!


*

"Von hier aus…," und mit weit ausholender Geste zeichnet Klaus Peter Grätz nach, was er mir beschreibt, „…haben wir einen schönen Ausblick auf die Himalaja-Kette. Wenn wir uns umdrehen, können wir bis nach Indien rein ins Terai und noch weiter bis hinunter in die indische Tiefebene blicken. Von hier oben kann man ganz im Osten sogar den Mount Everest sehen, den höchsten Berg der Erde.

Mit dem Berliner Reiseveranstalter bin ich in der warmen Mittagssonne gemächlich auf den Pulshoki gewandert. Mit etwa 3.000 Metern ist der Pulshoki der höchste und immergrüne „Hügel“ des südlichen Kathmandutals. „Berge“ beginnen hier erst bei 5.000 Metern über dem Meer.

*

Hier in Nepal fand die amerikanische Hippie-Bewegung in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren ihr Shangri La, ein Paradies auf Erden, in dem die Menschen das Idealbild menschlicher Gemeinschaft in aller Einfachheit leben. Das milde Klima im Schutz der Berge, der fruchtbare warme Boden, auf dem Reis, Weizen, Obst und Gemüse prächtig gedeihen und Marihuana wild und im Überfluß wächst - dieses Land schien wie geschaffen für ein friedvolles und leichtes Leben.

Und so kamen sie in Scharen. Kahlgeschoren und bärtig. In hohen Lederstiefeln oder barfuß, in buddhistischen safranfarbenen Gewändern oder im schlichten Weiß der Hindus. Gekleidet in von Schneidern der Stadt kunstvoll gefertigten Hemden aus Samt und Seide - oder auch nackt. Sie kamen mit Perlen geschmückt und Edelsteinen in der Nase, unterernährt oder dick. Sie waren drogenabhängig und apathisch. - Oder auch hellwach. Auf ihren Lippen die Worte „Liebe“ und „Frieden“, love & peace - Sie genossen die Freiheit, Haschisch zu rauchen, Lotosblumen zu essen und das unbekümmerte Entgegenkommen freundlicher offener Menschen, die neugierig, erstaunt und liebevoll diese seltsamen Neuankömmlinge aufnahmen. - Namaste. Ich grüße den Gott und die Göttin in Dir.

*

Es sind nur wenige Schritte von hier, dem zentralen Basaar in Kathmandu, zu den Vierteln, in denen die Hippies wohnen. "Freakstreet" nennen die Nepali deshalb auch eine der Straßen. Und nur wenige Schritte sind es von hier zu einem der weiten, hellen Hinterhöfe der Stadt, in der das Leben noch heute so abläuft wie im europäischen Mittelalter.

Die Sonne fällt jetzt schräg in den Hof und teilt ihn in Licht und Schatten.

Es ist etwa vier Uhr. Es ist ein warmer, sonniger Nachmittag im Mai 2007 unserer Zeitrechnung. Mitten in Kathmandu. In Nepal ist es bereits der zweite Monat des Jahres 2064. „Und immer wieder die Zeit“. Ich sitze auf einem warmen großen Stein in der Mitte des Hofes. Jedes der Häuser hat einen eher kleinen, aber dafür üppig mit dicht an dicht gestellten Topfblumen geschmückten Dachgarten und jeweils einen kleinen Balkon mit allerlei Kochgeschirr aus Stein, Eisen, Ton, Kupfer und Blech. Winzig gelbe Früchte, die die Nepalesen Timila nennen und die köstlich süß schmecken, hängen von purpurroten Blüten durchsetzt die rostigen Eisengitter der drei- bis vierstöckigen Häuser herab.

*

Kristallklares Wasser, das dahineilt durch ein Bett aus geschliffenen Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier, schießt aus einem Rohr der Wasserpumpe über dem Brunnen auf weiße, nassglänzende Steine. Drumherum hocken und stehen zehn Mädchen zwischen sieben und zehn Jahren alt.

Eines in dunkelblauem Hemd und rotbraunem Rock, wäscht sich gerade den Staub von den Füßen. Mit einer Blechschaufel wirft ein anderes Mädchen Reis in den leisen Wind. Ein anderes verstärkt den Luftzug mit einem großen Fächer, um so die Spreu vom Reis zu trennen. Die derart vorgerei-nigten Reiskörner schaufelt das erste Mädchen regelmäßig zu großen Haufen zusammen.

Sieben solcher Reishaufen sind auf der Sonnenseite des Hofes verteilt und werden nun nach und nach mit Matten für die Nacht abgedeckt. Etwa fünfzig Mädchen und Frauen, Jungen und Männer zähle ich, die Gemüse putzen, Wäsche waschen, Reis trocknen oder das arbeitsame Geschenen betrachten. Jeder macht was.

Nahezu jedes der Mädchen hat ein noch kleineres Kind auf dem Arm. Hinter einigen der weit offen stehenden Fenster hocken Männer bei dampfendem Tee zusammen. Sie schwatzen, spielen und scherzen. Die Jungs lassen ihre blauen, weißen, roten, grünen und gelben Reispapierdrachen in den klaren, sonnigen und heute leicht windigen Mainachmittag steigen oder laufen vergnügt hinter den Hunden her. Sie wirken unbekümmert, heiter, irgendwie sorgenfrei und - glücklich.

*

Was braucht ein Kind in Nepal, um glücklich zu sein?

Dagmar Fuchs, die für zwei Jahre im nepalesischen Erziehungsministerium Bildungsprojekte betreut, beantwortet diese Frage so:

"Ich glaube, daß das ganz schwierig ist, diese Frage zu beantworten, weil es etwas vermischt irgendwie: Was wir als „Glück“ definieren oder was wir als „Glück“ empfinden, ist überhaupt nicht gleichzusetzen mit dem, was ein Nepali als Glück empfinden würde! Also wenn wir jetzt als Westeuropäer auf die nepalesischen Lebensverhältnisse gucken, dann ist ganz klar, daß wir da sehr viel mehr Probleme entdecken, als die Menschen hier in Nepal selber, die in dieser Situation leben und sich mit dieser Situation abgefunden haben, weil halt Alternativen gar nicht offenstehen.

Das ist aber unsere Sicht! Die Menschen in ihrer Situation mögen durchaus sagen: Glück? - Bei gutem Essen zum Beispiel ´khushi lak tsah`. Oder wenn die Familie wieder zusammenkommt, wenn eine Ziege geschlachtet wird. Bei solchen Gelegenheiten würden Nepali sagen: Das ist Glück. ´Khushi.´ Eine gute Ernte natürlich. Das ist ´khushi´. Das bedeutet Glück. Oder wenn eine Kuh gut Milch gibt oder ein gesundes Kälbchen gebärt. Oder das Wetter: Daß dieses Jahr der Monsoon rechtzeitig gekommen ist. Das sind Glücksempfindungen. Ein gutes Essen, das ist natürlich wahr, ist ein Glücksmoment. Wie oft passiert das bei uns? Hier sind diese Situationen unglaublich rar! Wenn die Nepalesen einmal im Jahr eine Ziege schlachten, das ist dann natürlich ein Fest! So wie bei uns Weihnachten vor hundert Jahren."

*

"Ich bin Pasang. Pasang aus Bhaktapur. Pasang, der Geschichtenerzähler. Ich möchte euch die Geschichte der kleinen Göttin erzählen:

Auf den Riesenbergen da vorne, da wohnen die Götter. Die Berge des Himalaja sind ja der Sitz der Götter! Das haben mir die Erwachsenen erzählt. Ich hätte ja gerne selbst mal so einen Gott gesehen. Das muß ja hochinteressant und spannend sein da oben auf den Riesenbergen mit all den Göttern. - Das denken sich bestimmt auch die Bergsteiger, die immer wieder auf die Riesenberge hochklettern um dann für ein paar kleine Augenblicke von da ganz hoch oben runter auf uns Menschen zu gucken, wie die Götter. Aber eben immer nur ganz kurz. Denn lange kann man es als Mensch da oben ja nicht aushalten. Es ist ja bitterkalt da oben und man kann da kaum atmen, sowenig Luft ist da auf den Gipfeln der Riesenber-ge.

Wisst ihr was, ich ärgere mich sehr über die Bergsteiger! Wisst ihr auch, warum? - Weil die nämlich die Götter stören! So, jetzt wisst ihr´s! Die haben das nämlich überhaupt nicht gern, die Götter, wenn da immer wieder Menschen atemlos ankommen und atemlos rumstehen und atemlos rumgaffen und atemlos rumknipsen und atemlos da ganz oben liegenbleiben...

Deshalb sind jetzt auch viele Götter umgezogen! Ja, das war die einzige Möglichkeit. Die sind jetzt alle auf einem anderen Berg. Das ist der dahinten, der Fischschwanz-Berg. Seht ihr auch, warum der so heißt? Der Fischschwanz-Berg heißt so, weil er so aussieht wie der Schwanz von einem Fisch. Genauso."

*

Pasang und ich sitzen im Reisfeld so ungefähr 200 Kilometer östlich von Kathmandu ganz in der Nähe von Phokara.

"Die Kinder...,

…erzählt Pasang, ja, die Kinder würden auch gerne mal so einen Gott oder so eine Göttin ganz aus der Nähe sehen. Aber auf den Riesenbergen ist es ja bitterkalt und ungemütlich. Einfach nicht zum Aushalten. Und die Menschen, die schon lange in Nepal wohnen, die wissen ja auch, daß die Göttinnen und Götter ihre Ruhe haben wollen und das auch in Ordnung so ist.

Die Kinder und Erwachsenen in Nepal sind nämlich schlau, erzählt Pasang weiter und legt sich dabei auf ein geschnittenes Bündel Reis während er von den Göttinnen, den Göttern, den Bergen und den Menschen in Nepal erzählt.

*

„Die Kinder und Erwachsenen in Nepal haben sich überlegt, daß sie sich der Einfachheit halber eine Göttin im Kathmandutal suchen! Ist das nicht schlau? Sie suchen sich einfach eine Göttin hier unten wo es warm ist und wo der Reis wächst. Und genug Luft zum Atmen ist auch da. Wie findet man aber so eine Göttin? Das ist gar nicht so einfach wie ihr euch vorstellen könnt. Dazu braucht man nämlich Mönche.

Die besten, schlauesten und höchsten Mönche im ganzen Himalaja werden gebraucht, um so eine Göttin zu finden! Und die suchen sie in ganz bestimmten Familien. Ein Mädchen muß es natürlich sein. Ganz jung und makellos muß es sein. Es darf noch keine Frau sein und keine einzige Wunde oder Narbe am Körper haben. Keinen einzigen auch nur klitzekleinen Tropfen Blut darf sie verloren haben. Ihr könnt euch vorstellen, wie schwer das ist. - Das Ganze dauert also ganz schön lange, bis diese Mönche so ein Mädchen gefunden haben, die noch nie in ihrem Leben geblutet hat. Und jetzt kommt´s: dieses kleine Mädchen muß auch noch an einem ganz bestimmten Tag geboren sein!

Ihr könnt euch also vorstellen, daß es ganz schön lange dauern kann, bis die höchsten Mönche des Landes mit den höchsten Bergen der Welt so ein besonderes Mädchen gefunden haben!

Aber ihr könnt euch nicht vorstellen, wie groß die Freude ist, wenn die Mönche endlich die kleine Göttin gefunden haben. Dann wird in windeseile der kleine Tempel am wichtigsten und schönsten alten Markt in Kathmandu, der Hauptstadt von Nepal, herausgeputzt und mit frischen Blumen ge-schmückt. So ein richtiger kleiner Palast wird das, in dem es immer gut riecht und in dem es immer aufgeräumt aussieht und in dem es immer etwas Leckers zu essen gibt und auch immer süßen Nachtisch gibt is ja eh klar. Dafür sorgen ja die Mönche.

Und dann kommt der ganz große Tag: Die kleine Göttin zieht in ihren ganz großen kleinen Tempel ein.

Sie bekommt goldene Kleider und einen wunderschönen Kranz aus roten und gelben Blumen, damit sie auch aussieht wie eine richtige Göttin. Auf die Stirn malen ihr die höchsten Mönche ein drittes Auge, damit die kleine bekränzte Göttin noch besser sehen kann. Und: Die höchsten Mönche müssen genau das machen was die kleine Göttin will! Unglaublich, aber wahr! Dies ist ja eine wahre Geschichte vom einfachen Leben der Menschen in Nepal. „Die bekränzte Göttin zeigt es an, in diesem Lande geht´s voran“ - aber das ist ja schon wieder eine ganz andere Geschichte.

*

Es ist wirklich eine wahre Geschichte. Danita Shakya, ein 13 Jahre altes Mädchen aus Kathmandu war Kumari, die kleine Göttin. Sieben Jahre lang lebte das Kind im Glanz ihres kleinen Tempels. Verlassen aber durfte sie ihn lediglich zu den drei, vier großen Festen im Jahr, die zu ihren Ehren veranstaltet wurden. Wenn die höchsten Mönche auch sonst alles machten, was die „kleine Göttin“ verlangte - raus zu den anderen Kindern zum Spielen ließen sie sie nie!

Im Alter von sechs Jahren war Danita Shakya als Wiedergeburt der Göttin Taleju, der Schutzgöttin der nepalesischen Königsfamilie, von den höchsten Mönchen auserwählt und in den Tempel gesperrt worden. Dort saß sie dann. Und empfing - mit Geschenken überhäuft das Volk, auch ihre Eltern und Geschwister und Verwandten. Wer sie sehen wollte, mußte aber erst um eine Audienz bitten und dafür bezahlen, Opfer und Geschenke bringen.

Auch der König kam jedes Jahr einmal zu ihr um sich von ihr die thika, einen roten Farbtupfer auf der Stirn, zu holen. Das ist für den König von Nepal die alljährliche Garantie für Wohlstand, Wohlergehen und ein weiteres Jahr Herrschaft. Pustekuchen! Damit ist es jetzt nämlich nach mehr als 230 Jahren vorbei. - Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte! Und wie lange dauern eigentlich 230 Jahre…?

*

Und so geht es der kleinen Göttin sehr gut, erzählt Pasang weiter, sie hat alles was sie braucht, die Mönche machen, was sie will und sie kann sogar, wenn sie das möchte, auch mal ganz für sich alleine sein und lesen. Aber die kleine Göttin..., erzählt Pasang weiter, ...ist oft ganz traurig. Denn sie kann nie mit ihren Geschwistern spielen oder mit ihrer Mama oder ihrem Papa schmusen. Die dürfen nämlich ihre Tochter nur am Fenster ihres kleinen Palastes besuchen und ihr Geschenke bringen. Und wenn sie dann so am Fenster sitzt die kleine bekränzte Göttin in ihrem goldenen Kleidchen, dann ist sie immer ganz traurig. Das kann jeder sehen, erzählt Pasang. Es kommt ganz selten vor, daß die kleine Göttin einmal lacht. Dann muß ihr schon jemand einen besonders guten Witz erzählt haben oder sie muß sich schon sehr über ein selbst gemaltes Bild freuen ;-))

Die kleine Göttin lacht nur ganz selten. - Die anderen Kinder in Nepal, die lachen ganz oft. Und die singen zusammen. Und tanzen. Und springen über Pfützen und Müllhaufen. Ach, daran darf die kleine Göttin gar nicht erst denken. Dann wird sie nur noch trauriger.

*

Trotzdem träumt sie manchmal davon, mit ihren Freundinnen Seilchen zu springen oder einen Reispapierdrachen hoch in die klaren Lüfte der Berge steigen zu lassen, höher und höher... - Aber die kleine Göttin kann den anderen Kindern immer nur vom winzigen Fenster ihres kleinen Palastes aus zusehen. Aus dem Palast lassen sie die höchsten Mönche im Himalaja ja nicht heraus. Und so sitzt sie da und schaut traurig nach draußen. Wie ein Vogel in einem goldenen Käfig.

Aber manchmal, erzählt Pasang, der Geschichtenerzähler aus Bhaktapur, weiter, manchmal wünscht sich die kleine Göttin, daß sie wieder zuhause sein könnte. Bei ihren Geschwistern, daß sie zusammen Wasser holen oder Holz sammeln und mit den Hunden toben und sich in den Reisfeldern verstecken. Dann träumt die kleine Göttin, wie ein ganz normales Kind zu sein, die Büffel im Bagmati-Fluß zu waschen und zu schrubben und den Eltern bei der Arbeit zu helfen und mit den anderen Kindern solange zu schwatzen wie sie will, wenn sie abends am Brunnen Wasser holt für ein einfaches, leckeres nepalesisches Abendessen...

*

6. April 1990: Zum erstenmal in der Geschichte Nepals demonstrieren Menschen öffentlich gegen König Birendra, verlangen seinen Rücktritt, freie Wahlen und Demokratie. Loktantra! - Jindabaad, jindabaad! - Echte Demokratie wollen wir!

"Wir wollen endlich mitreden !" - Auf diese knappe Formel bringt es Shekar, der junge Zeitungsverkäufer im Touristenviertel Kathmandus, Thamel. Er sagt es einem deutschen Touristen, der sich ängstlich und besorgt bei ihm nach der plötzlichen Polizei- und Militärpräsenz vor und im Potala Guesthouse erkundigt, in dem er wohnt.

"Wir wollen Demokratie und keinen König, der auf uns schiessen läßt, ruft Shekar und läuft laut schreiend und schluchzend weg.

*

Das sind ungewöhnlich offene Worte in einem Land, in dem 1990 der uneingeschränkte Herrscher, König Bir Bikram Shah Deva Birendra als eine Verkörperung des Hindu-Gottes Vishnu verehrt wird. In den Zeitungen, die der junge Shekar in Thamel feilbietet, steht davon nichts. Kein Wort von Demokratie, kein Wort von Schüssen, keine Kritik am Königshaus.

Auf den Titelseiten prangt in diesen unruhigen Zeiten Anfang der Neunziger Jahre ein Foto des Königspaares wie es feierlich und mit allem Pomp Orden für Reiter eines militärischen Wettbewerbes verleiht. Auch am nächsten Tag kein Wort von den über einhunderttausend Menschen, die lautstark gegen den König protestieren. Die Zeitungen in Nepal werden zensiert. Kritik am König ist verboten. Verboten ist auch jedes kritische Wort an der Innen- und Außenpolitik des Landes am Fuße des Himalaja.

Auch Militär und Polizei sind für die Presse tabu. Radio Nepal untersteht der Regierung und verschweigt die Unruhen wie die Zeitungen. Alle Oppositionsparteien des Landes sind verboten, darunter die beiden bedeutensten, die Nepal Congress Party sowie die Communist Party of Nepal. Die Menschenrechtsorganisation amnesty international erhebt schwere Vorwürfe gegen die Regierung: Journalisten, Gewerkschaftler und Studenten würden willkürlich inhaftiert und gefoltert. Eine große Anzahl von Menschen sei nach der Verhaftung spurlos verschwunden. Hundert? Tausend?

*

Drei Tage später: 9. April 1990: In ganz Kathmandu wird der Strom abgeschaltet. Die Tempel der Stadt, die Märkte, die Gassen und Straßen, die Häuser liegen kurz nach Einbruch der Dämmerung im Dunkeln. Im Radio hat der regierende Außenminister des Landes, Hari Bahadur Basnjet, kurzerhand verkündet:

"Niemand sieht euch! - Die Welt blickt nach Europa!" (Der Fall der Mauer 1989)

Diese düsteren Aussichten verstärken die Wut. Die Dunkelheit und die bitteren Worte aus den Lautsprechern in den Häusern, aus Lautsprechern, die auch auf allen Märkten installiert sind und die man nicht abschalten kann, wie das Licht, aus Lautsprechern, die von den Hügeln auf die Felder schallen, von den Bergen in die Täler, das ganze Kathmandutal anfüllen, sie lösen wütende Proteste aus wie ein Funke ein Pulverfaß entzündet. Mehr als 200.000 Menschen gehen in dieser dunklen Nacht auf die Straßen und Plätze Kathmandus um ihrer Wut Ausdruck zu geben. Mehr als 200.000 Menschen. In ganz Kathmandu leben nur etwa 300.000 Menschen! Und sie alle protestieren gegen die Worte aus den Lautsprechern, gegen den Außenminister, der sie gesprochen hat, gegen den König, gegen die Monarchie überhaupt. Jana Andolaan. Loktantra. Jindabaad. Jindabaad. … … !

Noch in dieser dramatischen Nacht beugt sich der König dem Druck der Menschen auf der Straße und kündigt die Einrichtung eines Mehrparteien-systems an.

*

Am nächsten Tag ist der Jubel unbeschreiblich: Die Menschen demonstrieren weiter ihre Forderung nach Demokratie und feiern gleichzeitig ausgelassen diesen 9. April 1990, den Tag der Demokratie in Nepal. Still, geduldig und maßvoll hatte sich die verbotene Opposition des Landes immer wieder um Gehör bemüht. Leise, im Stil des Landes und vergeblich. Für 1990 schien Kampf angesagt zu sein: Warum auch sollte, was in der ehemaligen DDR und in Rumänien mit Ceausescu geschehen war, nicht auch im Himalaja und mit König Birendra möglich sein?

222 Jahre lang hatte die nepalesische Bevölkerung - nur einmal, 1961, kurz unterbrochen von einem schnell wieder endenden demokratischen Schauspiel - eine autoritäre, machthungrige, korrupte und reiche, absolute Monarchie geduldet. Noch heute gilt die Königsfamilie als eine der reichsten Familien der Erde. Das nepalesische Volk dagegen steht an fünfter Stelle der ärmsten Länder.

*

Nur wenige Wochen nach den blutigen Demonstrationen vom April 1990 war der Berliner taz-Journalist Niels Gutschow in einem der abgelegensten Winkel des Landes. In Jumla. Jumla bedeutet: Von Kathmandu aus geht man zwei Wochen zu Fuß durch Täler, über Pässe, entlang der Flüsse und Felder. Es gibt keine Straße nach Jumla. Und auch nicht zurück. Nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt wollten wir Kollegen nach seiner über vierwöchigen Reise neugierig wissen, ob die Menschen dort im abgelegenen Jumla die revolutionäre Nachricht von der Umwälzung erreicht habe und was sie davon halten.

Natürlich hatte fast jeder im Radio davon gehört und es war bekannt, daß die Lehrer im Hauptort des Distrikts gegen den König und für die Demokratie demonstriert hatten. Aber Demokratie? Was sollte das sein? Niemand in Jumla konnte sich etwas darunter vorstellen. Die Antwort lautete immer und immer wieder:

"Wir sind arm. Die Lehrer brauchen Hühner und die Polizisten Ziegen. Und die kriegen sie auch. Die haben sie ja schon immer von uns erpresst. Warum sollte das plötzlich anders werden mit dieser Demokratie?"

Geduldige Ratlosigkeit in Jumla. Gelassenes Abwarten in Bigu Gomba, Gleichgültigkeit in Arughat oder Langtang, in den unzugänglichen und abgeschiedenen Dörfern abseits des Kathmandutals.

*

Nepal liegt zwischen Tibet und China im Norden und Indien im Süden. Das Land am Fuße des Himalaja hat acht Achttausender, darunter den mit 8.850 Metern höchsten Berg der Erde, den Mount Everest. Vielen gilt Nepal wegen seiner großen geografischen Vielfalt als Wunderland. Ein ethnischer Schmelztiegel ist es in jedem Fall. Die 27 Millionen Einwohner sprechen mehr als 90 Sprachen. Kathmandu, die in einem immergrünen, fruchtbaren Tal gelegene Hauptstadt, liegt südlicher als Kairo oder Delhi - und kennt keinen Frost.

Nepal ist anders.

Hier gibt es Fünfsternehotels wie das "Hyatt Regency Kathmandu" oder "Yak&Yeti" und einfachste Gästehäuser wie das Potala Guesthouse im quirlig bunten Touristenviertel Thamel ab drei Euro pro Nacht. Tourismus ist neben Entwicklungshilfe einer der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren. Ziel der jährlich 375.000 Besucher, davon etwa 25.000 aus Deutschland, ist in der Regel eine längere Trekking-Tour im Annapurna- oder Mount-Everest-Nationalpark. Für Bergsteiger ist es ein Shangri La, weltweit gibt es nichts vergleichbar Schönes. Das Land gilt jedoch als eines der ärmsten der Welt. Der Ort Lumbhini im Süden ist Geburtsort Buddhas. Die große Mehrheit der Bevölkerung sind allerdings Hindus.

Nepal war bis zum 18. Mai 2006 das letzte Hindukönigreich der Welt. Eine friedliche Revolution setzte der autoritären Herrschaft des ungeliebten Königs Gyanendra ein Ende. Nach einer demokratischen Massenbewe-gung, die seit dem 6. April 2006 immer lauter nach "Loktantra", also echter Demokratie verlangte, musste der König die Macht über seine 250.000 Soldaten und bewaffneten Polizeikräfte des Landes abgeben, die er zuvor mit grosser Brutalität gegen sein eigenes Volk eingesetzt hatte.

Nepal ist anders.

Es ist eine sehr ungewöhnliche Revolution. Denn genau das ist es. Eine Revolution. Eine friedliche "Rhododendron Revolution" findet seit dem 6. April 2006 hier im Shangri La statt. Die internationalen Medien wie Reuters, BBC, CNN, New York Times, Washington Post und viele andere mehr haben von Mitte bis Ende April 2006 für gut eine Woche ihe Kameras auf Nepal gerichtet oder ihre Reporter-Teams hierher nach Kathmandu geschickt. Das war sehr wichtig und vermutlich mitentscheidend für den Erfolg dieser langsam aber stetig anwachsenden demokratischen Bewegung gegen König Gyanendra und für eine föderalistisch geordnete Republik Nepal.

Die spannendste Zeit in Nepal beginnt aber jetzt erst im Sommer 2007. Das Militär ordnet sich kleinlaut der Interims-Regierung unter und verspricht, die Menschrechte zu achten. Der König zieht noch an ein paar royalistischen Strippen, ist formal aber schon vollkommen entmachtet. Nun geht es zudem an sein wohl Milliarden Dollar schweres Vermögen (genauer gesagt das von ihm geerbte Vermögen seines 237 Jahre alten Shah-Clans), das der skrupellose Herrscher nach dem blutigen Massaker am 1. Juni 2001 von seinem Bruder Birendra und dessen Angehörigen geerbt hatte. Damals sagte er wörtlich: "Dieses Vermögen gehört dem nepalesischen Volk!" - Damals konnte er ja noch nicht wissen, was im April 2006 und danach geschehen würde...

*

Nun endlich werden auch die immer noch nicht geklärten Umstände dieses Massakers im Königspalast untersucht (alle Leichen wurden umgehend verbrannt, keine Spuren gesichert). Es gibt Augenzeugen, die der offiziellen Palast-Version („Kronprinz Dipendra erschiesst seinen Vater, den König, die Königin und nahezu alle Blutsverwandte wegen ungewollter arrangierter Hochzeit im Drogenrausch und erschiesst sich danach selbst“) widersprechen, sich bislang aber noch nicht öffentlich geäussert haben.

Dabei handelt es sich um den Schwiegersohn des ermordeten Königs Birendra und seine zwei Töchter, die allesamt Augenzeugen der wilden Schiesserei im Königspalast waren, sie mit viel Glück überlebten und seit nun sechs Jahren im indischen Exil leben.

*

Eine zentrale Rolle spielten auch die nationalen Medien. Trotz strenger Pressezensur wurde der ungeliebte Monarch unverblümt kritisiert. Mehr als 400 Journalisten wurden teilweise über Monate inhaftiert, 900 aus ihren Redaktionsstuben gejagt! Dennoch obsiegte die grosse Zivilcourage der Nepali in Stadt und Land, die trotz Ausgangssperren und Schiessbefehl landesweit zu mehreren Millionen auf die Strassen gingen. Es gab 21 Tote im April 2006, deren Fotos nun die Bilder von entmachtetem König und Königin ersetzen.

Überall im Land werden seit dem 18. Mai 2006, dem Tag der Proklamation der "Magna Charta" mit grosser Begeisterung die Begriffe "Royal" oder "His Majesty" überpinselt oder abmontiert. Hier in Nepal kann sich im Moment niemand vorstellen, das Gyanendra auch nur irgendeine repräsentative Funktion behalten wird. Zu tyrannisch war sein autokra-tisches Regime, zu starr sein Sinn, zu machtgierig seine engsten Berater. Über seine Zukunft entscheidet nun ein bereits angekündigtes Refendum aller Bevölkerungsschichten Ende November 2007.

Es herrscht ein überwältigender Optimismus im Land am Fusse des Himalaja, dass der blutige Guerillakrieg maoistischer Rebellen mit 13.200 Toten nach zwölf Jahren nun endlich ein friedliches Ende hat. Die Weichen dafür stehen gut. Die UN kümmert sich mit Zustimmung Indiens um die Entwaffnung der etwa 35.000 Ex-Rebellen und eine drastische Reduzierung des Militärs. Die Interimsregierung hat den Rebellen zudem angeboten, sie in Lohn und Brot zu nehmen und sie in eine verkleinerte Armee zu integrieren. Das Hauptziel der Rebellen, die Abschaffung der Monarchie, wurde erreicht. Nepal ist seit dem historischen 18. Mai 2006 nach Ansicht der meisten politischen Beobachter auf einem guten demokratischen Weg.

Der deutsche Botschafter in Nepal, Franz Ring, ruft am 30. Mai 2006 anlässlich einer Buchvorstellung der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) laut der Kathmandu Post vom 2. Juni 2006 zu ausländischen Investitionen auf: "Die Aussichten für ausländische Investoren sind herrlich, da der Friedensprozess in Nepal begonnen und das autokratische Regime ein Ende gefunden hat." Die Nachbarn Indien und China sind mit 2,5 Milliarden Menschen - fast einem Drittel der Weltbevölkerung - ein lukrativer Markt für in Nepal produzierte Waren, das durch seine geografische Lage privilegiert sei.

Die grosse Mehrheit von ca. 75 bis 80 Prozent der Nepali lebt auf dem Land, die meisten von ihnen auf terrassierten Hügeln wie zum Beispiel in Kristi, einer grossen Ansammlung von verstreut liegenden idyllischen Bergdörfern oberhalb des Ferienortes Pokhara, etwa 200 Kilometer westlich von Kathmandu. Hier in Kristi leben auf neun Verwaltungsbezirke (Wards) verteilt etwa 10.000 Menschen nahezu ohne jede ärztliche oder zahnärztliche Versorgung unter einfachen aber vergleichsweise guten Lebensbedingungen. Es gibt fruchtbare Böden, Trinkwasser von hervorragender Qualität, elektrischen Strom, zwei Handy-Netze und eine (extrem holprige) Busverbindung hinunter nach Pokhara.

Was für das Touristenauge so wunderbar anzuschauen ist, ist harte und gefährliche Arbeit: Die in allen Grüntönen schimmernden Orangenhaine, Mais, Weizen- oder Reisterassen sind sehr schwierig zu beackern. Im Monsun werden Wege, Felder und Häuser regelmässig weggespült.

Um den Kindern den langen und beschwerlichen Schulweg ins Tal hinunter zu ersparen unterstützt der Chiemgauer Jungunternehmer Markus Alexander Wössner nachhaltig den Ausbau einer Grund- und weiterführenden Schule sowie den Bau von Toiletten. Auch seiner Initiative ist es zu verdanken, dass nun weitere Hilfsorganisationen und der Münchener Reiseveranstalter Hauser Exkursionen die Lebenslage der Menschen in Nepal nachhaltig verbessern helfen.

Lebensfreude und Lebensmut der Menschen hier oben in den Bergen um Pokhara sind bei allem Leid ungetrübt. Es wird viel gelacht in den Häusern und in der Schule. Mehr und mehr Kinder geniessen ihre Kindheit und haben eine sehr klare Definition von „Glück“, eben wenn die Familie, die Ziege oder das Büffelkalb gesund sind und der Monsun nach viermonatiger Trockenheit von Oktober bis März rechtzeitig kommt und die drei (!) Ernten pro Jahr gut und üppig sind. Das Leben hier oben auf den Bergen und in den Tälern ist einfach und gut. Namaste - ich grüße den Gott und die Göttin in Dir!"

*

Zwei junge Polizisten in hellblauen Uniformen und mit weißen Schirmmützen - beides sichtbare Zeichen der japanischen Entwicklungshilfe und einer neuen Polizei, die jede Erinnerung an Prügel und Schüsse vergessen machen will - zwei so ausgestattete Polizisten diskutieren erregt mit dem Fahrer eines Busses.

Ich gehe etwas näher, wühle mich mit dem Mikrofon durch die Menschenmenge, werde mehr oder weniger sanft geschubst, vorbei an geduldig dahintrottenden Wasserbüffeln, blökenden Ziegen, gackernden Hühnern. Neue Busse kommen an, versperren mit den Weg und die Sicht, hupen und spucken noch mehr Menschen aus um sofort danach lärmend ihre eilige Fahrt fortzusetzen. Diesel & dust.

Ort: Ein Busbahnhof in Kathmandu. Zeit: 7 Uhr morgens im Mai 2007.

Es ist Samstag. Es ist Zeit zu ruhen. - Da sehe ich durch den lichten Staub wie einer der Polizisten energisch mit ausgestrecktem Arm zum Dach eines Busses zeigt. Dort oben stapeln sich Säcke, Körbe, Ziegen und Kinder. Etwa 50 Menschen kauern und klammern sich auf dem Dach aneinander und verfolgen mit sichtbarem Interesse die Debatte. Es geht nämlich genau um sie.

Die Polizisten fordern die Reisenden auf dem Dach des Busses auf, samt Hab und Gut ihre luftige Mitfahrgelegenheit zu verlassen. Diese Aufforderung, die ohnehin keinen Widerspruch zu dulden scheint, wird also umgehend befolgt. Einer nach dem anderen steigt die Leiter am hinteren Ende des Busses herab. Hier packt einer eine Ziege bei den Hörnern. Dort fliegt ein Bündel Hühner durch die Luft. Schwere Säcke, große Körbe und kleine Kinder werden heruntergereicht. Es wird gelacht und gescherzt. Die Lachenden helfen sich gegenseitig und sind guter Dinge.

Das - vorerst - einzige mürrische und ernste Gesicht weit und breit ist das des Fahrers. Denn bezahlt wird ja immer erst bei der Ankunft ;-((

Für die - ehemaligen - Passagiere hoch oben auf dem gelben Bus bedeutet dies alles nichts weiter als eine kleine Verzögerung in ihrem Lauf der Zeit. - Mensch, dann kommen die Hühner eben eine Stunde später zum Markt. Oder leben einen ganzen Tag länger. Wie schön! Oder eine total komplette Woche? Einen ganzen Monat ? Ein gutes Jahr? Ein ganzes Leben?

Da tastet sich auch schon ein zum Bus umgebauter Lastwagen mit der verblassten Aufschrift Möbelspedition Reisner an die geduldig Wartenden heran und wirbt ebenso laut wie inständig hupend um weitere Fahrgäste. Nach einer kurzen Weile sind beide Busse bis auf den letzten Sitz-, Steh- und Dachplatz besetzt. Abgefahren wird ja immer erst, wenn der Bus voll ist. Ob dazu auch das Dach des Vehikels zählt, entscheidet der Fahrer. Oder die Polizei. Aus den offenen Fenstern blicken lachende Gesichter.

Durch den Motorenlärm höre ich das Wort, das ich nun schon kenne: Namaste - ich grüße den Gott und die Göttin in Dir!"