Sonntag, 14. Oktober 2007

"Can I have another peace"



Tom lag in der Badewanne und dachte nach.

Über das Leben.

Süß war es.

Er betrachtete aus etwa 1,80 Metern Entfernung seine Füße. "Du hast schöne, zufriedene Füße", hatte Katya eben noch gesagt. Süß war sie. Tom hatte ihr nicht erzählt, dass ein Kölner Orthopäde sie einmal nüchtern mit "Grösse 44, Senk- Platt- und Spreiz" beschrieben hatte.

Wenn er nun seine Füße, die links und rechts neben der kalt glänzenden Edelstahlarmatur auf dem Wannenrand ruhten, einer sehr sorgfältigen Prüfung unterzog, mußte er allerdings Katya recht geben. Seine Füße waren schön! Ihm gefiel die schlanke, leicht geschwungene Form mit den ausgeprägten, aber sanften Rundungen der Knöchel und Zehen. Ja, seine Füße, die in den vergangenen Wochen schokoladenbraun geworden waren, signalisierten dem Kopf, der auf dem gegenüberliegenden Wannenrand lag: hey, du bist zufrieden!

Er hatte spekuliert. Und gewonnen. Als der US-Dollar stark war, hatte er riskant mit Put-Optionen darauf gewettet, daß er fallen würde. So kam es. Er hatte seine Optionsscheine vor zwei Wochen gewinnbringend verkauft. Sein Einsatz von 20.000 Euro war mehr als verfünffacht worden. Easy money dachte Tom.

Kasino-Kapitalismus nannte es Katya.

Tom neigte jetzt ohne besondere Anstrengung den Kopf leicht zur Seite, blinzelte ein wenig, ließ die Augen langsam forschend hin und her wandern und hielt dann ruhig inne. So genoß er durch den seidenen Schleier seiner starken Kurzsichtigkeit, die den tropischen Badepavillon, in dem er sich befand, wie mit einem Weichzeichner verfremdete, den dunkelbraunen, schlanken Körper hinter der Glasscheibe.

Er hatte Katya in Boom`s Cafe auf Koh Pagnan kennengelernt. Mit ein paar Whisky-Cola und einem dort für seine magische Wirkung einschlägig bekannten Pilzpfannekuchen hatten sie sich in einer sternenklaren Vollmondnacht in Stimmung gebracht. Es bereitete ihm jetzt großes Vergnügen, sich in dem wohltuenden Gefühl der Erinnerung an eine mystische Spanne Zeit zu baden, die irgendwann auf jener südthailändischen Insel in der Abenddämmerung begonnen und bis zum Morgenrot angedauert hatte.

Während das milchige, warme Wasser seinen Körper sanft liebkoste, mußte er daran denken, wie Katyas Füße - die den seinen glichen - sich unter dem Bambustischchen am Strand mit einer weichen aber gezielten Bewegung nach vorn in den feinen, weißen Sand gegraben und an die Sekunde, in der ihre Zehenspitzen die Seinen berührt hatten. Später hatten ihre Körper, die vom Alkohol und der magischen Wirkung der Pilze im Lauf der Nacht wie schwerelos geworden waren, den Weg zum Meer gefunden. Die Fischer in den Hütten aus Bambus und Lehm hatten ihr Lachen hören müssen während Katya und Tom nackt in den nachtschwarzen Ozean hinausgeschwommen waren.

Jetzt, in der Badewanne auf Bali, verdrängte Tom das unangenehme Gefühl der Übelkeit, den leichten Schwindel und die plötzliche Enge in der Kehle, die er kurz nach dem Verzehr des Pfannkuchens verspürt hatte und der betörende Zauber jener Nacht fing ihn wieder ein und durchströmte seinen Körper. Er schloß die Augen und sog den Duft der Frau ein, die neben ihm duschte und deren Geruch sich mit dem des Badewassers vermischte.

Tom bildete sich ein, Gerüche sehr genau unterscheiden und selbst winzigste Spuren eines Geruches erkennen zu können. Ein Buch, das ihn gefesselt und nachhaltig beeindruckt hatte, war "Das Parfüm" gewesen.

Tom Traveller erinnerte sich, während er sich nun in der Wanne aufrichtete, um nach dem kühlen, süßen Cocktail zu langen, an dieses Buch der Düfte des Lebens und des Todes und daran, dass er, als er es im Nachtzug von Bangkok nach Surat Thani gelesen hatte, fasziniert von der Entdeckung gewesen war, daß es möglich ist, durch die bloße Beschreibung eines Geruches diesen wirklich wahrnehmen, ihn richtig riechen zu können! So hatte er eine genaue Vorstellung von dem Gestank der Fischköpfe und dem fauligen Abwasser auf den Märkten Asiens, von dem Duft der Lavendelfelder Südfrankreichs und dem Geruch der Frauen an ihrer Scham bekommen.

In jener Zeit hatte er sich oft in die Gerüche seiner Kindheit zurückversetzt und gelernt, die silbrig-schleimigen Forellen aus dem Dorfbach von Welschen Ennest mit kristallklarem, kühlem Wasser, das dahineilt durch ein Bett aus geschliffenen Steinen, weiß und riesig wie prähistorische Eier wieder zu riechen wie auch das frische Heu und die warmen, dampfenden Kühe im Stall der Nachbarn, den Atem seiner Mutter und die Malerfarben seines Vaters.

Er zog langsam einen Schluck der hellroten alkoholischen Flüssigkeit mit dem Strohalm in den Mund und beliess ihn dort für eine Weile. Diese Weile reichte aus, den Geschmack von Rum, Curacao, Limonen, Orangen und Ananas zu erkennen und die Schleimhäute des Gaumens damit zu benetzen, ehe Tom das Gemisch in drei kleinen Schlücken in die Speiseröhre entließ.

Katya drückte ihre Nase an die Glaswand, die Dusche und Bad voneinander trennte und sandte einen Kuß Richtung Badewanne, indem sie nun auch ihre geschlossenen Lippen an die Scheibe legte. Dabei berührten ihre Brustspitzen und ein Knie das feuchte Glas.

Tom erwiderte ihren Kuß und prostete ihr zu. Er genoß es, sie so zu betrachten. Katya war schlank, fast schon dünn und Zahnärztin irgendwo in Norddeutschland. Es erregte ihn, sie so hinter der Scheibe zu sehen, und er dachte an ihre erste Nacht im Wasser.

Es war Vollmond. Tom hatte anfangs keine recht überzeugende Erklärung für ein Phänomen, das die thailändischen Fischer auf eine Algenart während einer bestimmten Meeresströmung, Katya eher auf die halluzinatorische Wirkung der "magic mushrooms" zurückführte. Als ihre nackten Körper in die dunkle Andaman Sea glitten, verursachte jede ihrer Bewegungen eine Explosion von Lichterteilchen im Wasser, die wie Aquamarine funkelten, manche auch wie Diamanten oder Fischschuppen, die strahlend aufglühten um nach kurzer Zeit - vielleicht drei, vier Sekunden - wieder zu erlöschen. Milliarden von Wasser-Glühwürmchen, die bei einer Berührung all' die Energie freizugeben schienen, die in ihnen steckte.

"Siehst Du das auch ?" fragte Katya ungläubig verwundert und kindlich begeistert zugleich. - "Ja, ich seh' das auch", erwiderte Tom, der gerade mit Armen und Beinen, Händen und Füssen eine glitzernde Korona um sich herum aufwirbelte und ein Phänomen von der Art zu sehen glaubte wie es Douglas Adams nicht besser hätte erfinden können: Zahllose fluouriszierende Wasserteilchen spiegelten das helle Mondlicht, die Milchstrasse oder ganz einfach das Universum wieder. Es faszinierte Tom derart, dass er darüber beinahe Katya aus den Augen verloren und es ihm fast - was die Aussergewöhnlichkeit dieses Ereignisses unterstreicht - die Sprache verschlagen hätte.

Er hörte sich schließlich im Zustand erweiterter Wahrnehmung wie aus einer großen Entfernung "geil...grell...galaktisch!" in die Nacht heraus rufen, während er Katyas Nähe suchte.

So schwammen, tauchten und flimmerten beide eine zeitlang nebeneinander, ihre Haut kräuselte sich, und sie lachten und schwiegen, verzaubert von der Unendlichkeit des Alls, das ihnen mit jeder ihrer Bewegungen "no limits" spiegelte, im Wasser und auf ihren Körpern, auf denen die Teilchen weiterglühten, bis sie in der warmen Luft trockneten und langsam erloschen.

Nach Stunden unendlicher Glückseligkeit im salzigen, warmen Wasser, ließen sie sich mit der schwachen Strömung wieder an den Strand spülen. Es mußte inzwischen früher Morgen sein. Kein Vogel, kein Ochsenfrosch, kein Gekko störte die Stille, als sich ihre Zehen wieder berührten und Katyas Lippen "komm" sagten. Mit einer kleinen Welle glitt sie auf ihn.

Das Fünf-Sterne-Resort-Hotel galt unter Kennern als das wertvollste Juwel der Kette. Über 200 Quadratmeter totaler Luxus - pro Gast versteht sich - verteilt auf drei feine, kleine Pavillons aus den edelsten Hölzern der hiesigen Tropenwälder gefertigt und mit erlesenstem Marmor Europas verfeinert und von kreativen australischen Architekten lustvoll und - wie zufällig - vom Reissbrett in die grüne Hügellandschaft mit verschwenderischer Vegetation gestreut. Jeweils 40 der Pavillon-Gruppen ergaben ein Dorf. 170 balinesische Diener sorgten in jedem der vier Dörfer mit präzisem Service rund um die Uhr für exclusiven Komfort in absolut privater Atmosphäre. Ab 250 Euro pro Nacht war man dabei. Man konnte hier Wochen verbringen ohne je einen anderen Gast zu sehen. 80 Gärtner durchstreiften täglich das Gebiet, um der jungen Wildheit des von ihnen gerade erst angepflanzten Dschungels mit Buschmessern und Macheten Einhalt zu gebieten.

Es war feucht und heiß. Neben dem Badebungalow, in dem Tom Traveller soeben im Begriff war, den letzten Schluck "Mai Tai" zu schlürfen, und der Dschungel-Dusche unter freiem Himmel, in der Katya gerade ihre Moskitostiche zählte, lag der zu jeder Villa gehörende Garten mit Wasserpflanzen, eigenem Pool, Orchideen, Farnen, Bananen, Palmen und einer Sonnenterrasse mit unvergleichichem Blick über die Bucht von Jimbaran, deren blendend weisse Strand, von seicht hereinrollenden Wellen geschaffen und schroffen Kalkfelsen gesäumt, Tom Traveller dazu inspiriert hatte, einen Roman zu schreiben.