Sonntag, 14. Oktober 2007

Prison in Paradise



"Earth stream and tree encircled by sea

waves sweep the sand from my island.

My sunsets fade.

Grain after grain love erodes my

high weathered walls

which fend off the tide

cradle the wind

to my island.

Violet skies

touch my island, touch me."

(aus: „Islands", King Crimson)

Matt und satt lag Tom Traveller in der feuchtwarmen Mittagshitze im Schatten seines dunkelroten Sonnenschirmchens auf der geräumigen Veranda der Suite mit der Nummer 246 im Dusit Laguna Resort auf Phuket und blickte hinaus auf den Indischen Ozean . Das Hotelmanagement hatte ihn netterweise im Rahmen seiner grosszügigen Public-Relations-Aktivitäten zu einem dreitägigen Aufenthalt eingeladen, und Tom hatte dankend angenommen. Er lutschte die Praline, die ihm das thailändische Zimmermädchen gestern Nacht auf's Kopfkissen gelegt hatte, liess sie langsam auf der Zunge zergehen und genoss den cremigen Nougatgeschmack. Er liebte Pralinen. Und er liebte es zu träumen. Tom Traveller war ein Träumer.

In dieser Schokoladenminute träumte er, wie er vor knapp zwei Jahren an der Grenze zu Burma hartnäckig und erfolgreich um den kleinen dunkelroten Sonnenschirm gefeilscht hatte. Stolz hatte er ihn schliesslich von der burmesischen Frau auf dem Markt eines Flüchtlingslagers erstanden. Seitdem führte er stets zwei Schirme mit sich, wenn er reiste: den dunkelroten für die Sonne und einen hellgrünen, der dicht nebeneinanderliegende Bananenblätter abbildete, als Regenschirm.

So sass er jetzt da, wohlbeschirmt, neben der Schale mit Früchten, die der Etagenbutler gerade serviert hatte, und blickte hinaus auf's Meer ohne von dem Obst weiter Notiz zu nehmen. Wie gesagt, er träumte. Er träumte von den lachenden Bäuerinnen und den schnatternden Enten auf den Reisfeldern Indonesiens, von seinen ausgedehnten, einsamen bushwalks in Australien, von dem fetten Wildschwein, das er in Malaysia erlegt und als Geburtstagsessen für Maria zubereitet hatte und von dem Batikvorhang, den Walter ihm einmal in den Teebergen Sri Lankas geschenkt hatte und von dem es auf der Welt nur zwei Exemplare gab (den anderen hatte irgendsoein indischer Tourismus-Minister). Er träumte von den mühsamen Treks mit backpack und Patricia an der wilden, windigen und nassen Westküste der Südinsel Neuseelands und den heaps of sandflies, die ihnen erbarmungslos die Beine zerstochen hatten. Er träumte von dem abenteuerlichen Elefantenritt mit Jane im unwegsamen Dschungel Nordthailands und den Mountainbiketouren im Kathmandutal mit Katharina, von den durchtanzten Marijuananächten im Reggae-Pub auf Koh Samui mit Helen

- und von Anna.

Ach, was gäbe er jetzt um eine zweite Praline. Er würde sich wohl bis heute Abend gedulden müssen, oder ob man vielleicht den Butler danach fragen sollte? Mit leichtem Schwung erhob sich Tom aus dem Liegestuhl und stubste das Teakholztischchen mit dem Obst zur Seite. Langsam liess er sich dann bäuchlings auf den Teppich nieder (mäßige Qualität, höchstens 60 Knoten je Quadratzentimeter, einfaches Design, wahrscheinlich Kinderarbeit, erkannte er mit Kennerblick). Was für ein Tag war heute ? Der 20.? Oder schon der 21.? Er tippte mit dem linken kleinen Finger leicht auf die on-Taste seines Blackberry, und auf dem Display erschienen sein Name und Anschrift nebst seinen diversen Telefon- (einschliesslich Handy) und Faxverbindungen, eine kalendarische-Monatsübersicht und die aktuelle Ortszeit: 12.14 Uhr Bangkok. Er drückte langsam die Arme durch zum ersten von 21 Liegestützen. Morgen würde er - direkt nach der Sauna - im Gymnastikraum des Hotels etwas für seine Bauchmuskulatur tun. Mit seinem Bauch hatte Tom echte Probleme. Noch keine 22 und schon 'nen Ansatz! - Da musste er einfach etwas gegen unternehmen...9... 10...11 ..., immer wenn er die Arme ganz durchgedrückt hatte, konnte er durch einen schmalen Schlitz auf's Meer blicken...16... 17...18..., noch drei! Er hatte sich vorgenommen, diese Art von Muskeltraining einmal täglich durchzuführen, seit bereits erwähnter Orthopäde (die Füsse!) ihm geraten hatte, etwas für seine Oberarm-Muskulatur zu tun. (bei einem Sturz im Skiurlaub vor drei Jahren hatte er sich ein Band im linken Oberarm überdehnt und sollte so die Muskeln stärken) ...20...21! Geschafft! - Die Tatsache, dass er bis zum Ende des Monats jeden Tag einen Liegestütz mehr machen müssen würde, liess ihn einen Moment an der Richtigkeit seines Entschlusses zweifeln, die Aussicht auf den nächsten Ersten und auf einen kräftigen body versöhnte ihn jedoch schnell wieder mit diesem Vorsatz.

Nach getaner Arbeit setzte er sich auf die Balkonbrüstung und schaute auf's Meer. Alles war wieder ruhig heute. Keine Kriegsschiffe, keine Helikopter der thailändischen Marine und keine Koffer am Strand. Gestern Nachmittag hatte Tom Traveller von dieser Stelle mit dem Fernglas beobachtet, wie etwa 50 Touristen mit Schlauchbooten und einem Schnellboot der thailändischen Kriegsmarine vom Strand aus evakuiert worden waren (er hatte sich sogar die weisse Nummer am Bug notiert - es war die Nummer 629 - und nahm anfangs an, es handele sich wohl um eines der hier in dieser Gegen regelmässig aufkreuzenden Schiffe der US-marines, die hier zwecks Rest&Recreation einen kurzen stopover einzulegen pflegten).

Es hatte sich dabei um diejenigen Hotelgäste dreier nebeneinanderliegender Luxushotels gehandelt, die nicht länger Gefangne im Ferienparadies sein wollten. Sei es, weil sie ihre Flieger nach Frankfurt, Hongkong, New York oder Tokio erreichen wollten oder einfach keinen Bock mehr auf Knast hatten - Nougatpraline hin oder her. Und auch Toms komfortable Suite war durch den Akt der einheimischen Dorfbevölkerung zur Zelle geworden, das Resort zum Gefängnis !

Tom trug es mit Gelassenheit. Er hatte seit langem wieder einmal das angenehme und sichere Gefühl, Zeit zu haben. Er hegte keinerlei Fluchtgedanken. Ach ja, die Praline. Er zögerte einen Moment, gab sich dann aber einen Ruck und griff zum Hörer. Zwei Minuten später klingelte der Butler an der Tür seiner Suite.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Ausstattung seiner Zelle mit der Nummer 246 nichts zu wünschen übrig liess: Bar, Sitzgruppe, zwei TV-Sets, Audio-Tower mit CD Player, Videogerät mit bereitliegenden Filmen, unter anderen Casablanca in der englischen Originalversion, Mahagoni-schreibtisch mit Briefpapier, in dem oben links in goldenen Lettern Tom Traveller eingraviert war. Im zweiten Raum, dem Schlafzimmer, ein Canape am Fenster, im Zentrum ein riesiges Doppelbett mit Baldachin, eine Sitzgruppe. Dann das Bad - Ein Traum in weissem Marmor... Genug ! Abgesehen davon, dass einige Läden im einsam gelegenen Resort-Hotel während der letzten 48 Stunden geschlossen hatten und Tom übersät war mit Moskitostichen, schien die Versorgungslage gut zu sein.

Was war geschehen ?

Die Nabelschnur der erwähnten drei Hotels war eine schmale Strasse durch Lagune und Sümpfe. Diese Lebensader hielten vielleicht eintausend Thais aus den umliegenden Dörfern seit eben diesen 48 Stunen rund um die Uhr blockiert. Quer über die Strasse gelegte Bäume und Palmen, kleine Felsen und hunderte von motorbikes bildeten seitdem einen undurchdringlichen Wall. Niemand, der zu den Hotelanlagen wollte, durfte passieren und wer die Resorts einmal verlassen hatte, konnte nicht wieder hinein.

Diese für die 500 Insassen äusserst wichtigen Informationen erhielt Tom Traveller auf der wöchentlich stattfindenden Cocktailparty des Hotelmanagements für VIP's und geladene Langzeit-Gäste. Aurelio Ciocetti, Executive Assistant Manager, fragte sich nach zwei schnellen Glas Bier mehr oder weniger laut, warum die Polizei tatenlos zusehe ("Wenn die Leute ihr Land verkaufen, sind sie's doch selbst in Schuld. Verkauft ist schliesslich verkauft!") und ein nicht gerade zimperlich dreinblickender Hotelgast, der ein Glas Champagner fest umklammert hielt, forderte mit schweizer Akzent und unverhohlen: "Die Zufahrt muss freigeschossen werden !" - Stammtischlaune.

Am folgenden Morgen unternahm Tom Traveller einen kleinen Spaziergang zur Blockade.

Hinter dem Wall aus Stein, Holz und Mopeds erhebt sich ein grosses, rotes Zelt, in dem heisse Suppe und kühle Getränke gereicht werden. Tom schätzt die Menge auf etwa 300. Einige halten Spruchbänder in thailändischer Sprache hoch. Die Protestversammlung hat unübersehbaren Volksfestcharakter. Es wird lächelnd miteinander diskutiert und gestritten, am Rand stehen lächelnd ein paar Polizisten unter einer Palme. Klar: Thailand, Land des Lächelns, Phuket, Perle des Südens. Die Polizisten tragen Walkie Talkies und Waffen, haben aber offensichtlich strikte Anweisung nach den blutigen Erfahrungen der Mai-Unruhen, die bekanntlich zum Sturz der thailändischen Regierung führten, keinen Gebrauch davon zu machen.

Einer der Demonstranten winkt Tom zu und gestikuliert ihm, doch herüberzuklettern. So eine freundliche Einladung kann man nicht ausschlagen. Der Demonstrant erzählt ihm aufgeregt in gebrochenem englisch, dass ein Vertreter des Singapurer Geschäftsmannes Ho Chin Wah anwesend sei. Ihm sollen die Grundstücke gehören, um die es geht. Und für das Wochenende habe sich sogar der Ministerpräsident des Landes, Chuan Leek Pai, im Dorf angesagt. Das seien die neuen Zeichen der jungen Demokratie im Lande, heisst es. Das Volk könne jetzt mitreden, hört Tom als er sich scheu und still unter es mischt. Das Volk scherzt und lacht, es wird gespeist und getrunken. - Sommerfestlaune.

Als er im Zentrum einer Menschentraube anlangt, drückt ihm eine Thailänderin einen Zeitungsausschnitt in die Hand. Es handelt sich um einen ganzseitigen Artikel einer grossen, überregionalen Tageszeitung. Tom überfliegt die Seite: The Nation vom 30. November 1992, halbseitiges Farbfoto eines weissen Traumstrandes, Schlagzeile: "Phuket - Holiday Paradise where locals are banned". Im unteren Drittel fällt Tom ein Emblem mit sechs erhobenen Händen ins Auge, unter denen steht: "More Power To The People !" Die Thailänderin fragt Tom, in welcher der Hotelanlagen er denn wohne. Tom antwortet wahrheitsgetreu, worauf sie ihn in Preeda's Kitchen einlädt. Preeda´s Kitchen sei ihre offene Strandküche direkt zwischen zwei Resorts. Ihre grosse Sorge sei, dass sie ihre Thai-Küche schliessen muss, weil, wie sie sagt, den Hotelbetreibern ihre preiswerte Konkurrenz ein Dorn im Auge sei. Deswegen protestiere sie hier für ihr Recht auf Kochen.

Neben ihr hockt ein vielleicht vierzigjähriger Mann. Er sei Taxifahrer, sagt er und ihn ärgere, dass viele Wege für ihn gesperrt seien und nur von hoteleigenen Fahrzeugen benutzt werden dürfen. Dagegen protestiere er hier mit der Strassenblockade.

High noon. Essenszeit. Tom sitzt in Preeda's Kitchen unter einem Sonnenschirm und studiert den Zeitungsartikel. Der Autor, Rakkit Rattachumpoth beschreibt darin den wachsenden Unmut der Inselbevölkerung, viele ihrer Strände nicht mehr betreten zu dürfen. Jeder Tourist habe jederzeit freien Zugang zu jedem Strand in Thailand, den einheimischen Thais werde dieser Weg aber immer häufiger von den Sicherheitskräften der Hotels verwehrt.

Sucho Phongsanon, ein 38 Jahre alter Dorflehrer, wird zitiert: "Als ich jung war, sind unsere Lehrer mit uns hinausgezogen,um dort zu campen und zu übernachten. Es war immer ein grossartiges Erlebnis." Weiter erzählt er, dass er heute seine Schülerinnen und Schüler nicht mehr an diese Strände seiner Jugend bringen kann, weil an ihnen grosse, internationale Hotelketten ihre Häuser errichtet hätten.

Ruedee Phumphuthavorn., 42jährige Geschichtslehrerin an der hiesigen Satri Phuket School, klagt nicht ohne Sarkasmus: "Ich befürchte, dass meine Schülerinnen und Schüler in naher Zukunft darauf angewiesen sind, dass ich ihnen erzähle, wie unsere Strände aussehen und das Meer. Und das alles, weil eine handvoll Hotelbesitzer unsere Strände zu ihren Privatstränden gemacht haben."

Phukets internationales Tourismusgeschäft startete im Jahr 1972, als das erste Luxushotel, das Phuket Island, errichtet wurde. Die touristische Blüte der Insel begann aber erst 1987 mit einem vorher nie erlebten Zustrom ausländischen Kapitals. Die Statistiken wiesen einen rasanten boom nach dem anderen aus. Anfang der neunziger Jahre reisten jedes Jahr mehr als 1,3 Millionen Touristen in das südthailändische Urlaubsparadies und liessen pro Jahr mehr als 330 Millionen Euro auf der Insel zurück. Ein Ergebnis des Thai And International People's Forum On Third World Tourism Ende November 1992 auf Phuket war jedoch: nur ein verschwindend kleiner Teil dieses Geldes landet in den Geldbeuteln der einheimischen Bevölkerung. Das grosse Geld wandert in die Geldsäcke nach Singapur, Hongkong und Tokio.

Toms Thai Essen in Preeda's Kitchen ist vorzüglich: Tom Yam Khung, eine herzhafte, erfrischend scharfe Suppe, bestehend aus Pilzen, Tomaten, Schalotten, Zitronengras, Bergamottblättern, Chili, Limonensaft, Kokosnussmilch, Fischsauce, Korianderblättern sowie Petersilie und Shrimps als Einlage. Dazu duftig leicht gebratener Jasminreis mit winzigen Hähnchenstückchen, gewürzt mit Strandluft, Sonne und Meersalz und ein kühles Singha Bier. Mit 2,50 Euro ist Tom Traveller dabei. Im Hotel-Resort nebenan hätte er ein ähnliches Vergnügen für 12,50 Euro gehabt, falls der Vergleich erlaubt ist. Allein das Bierchen kostet im Hotel 2,80 Euro.

Mit der Rechnung legt Preeda auch ihr Gästebuch vor. Die letzte Eintragung stammt vom 8. Dezember: "Die Regierung sollte für ihr Volk sorgen und es nicht von den Stränden vertreiben, um Platz für die Reichen zu schaffen. Denkt zuallererst an die einheimische Bevölkerung !" Unterschrieben ist dieser Appell von einem Paul Alexion aus Sydney. Ein anderer Tourist schrieb tags zuvor: "Preeda's Kitchen soll genau da bleiben, wo sie jetzt ist. Wir schätzen es sehr, eine Auswahl zu haben und nicht nur von der Monopolstellung der grossen Hotels abhängig zu sein."

Preeda, Anfang 30, verheiratet und Mutter von zwei Söhnen im Alter von acht und elf Jahren, hat bis vor fünf Jahren als Bau-helferin gearbeitet. Dafür bekam sie 80 Baht, umgerechnet etwas mehr als zwei Euro Tageslohn. Mit dem, was ihr Mann dazuverdiente, konnte die Familie gut leben. Mit dem Touristenboom auf der Insel entschloss sie sich, selbständig zu werden und eröffnete Preeda's Kitchen dort, wo die Strandküche auch heute noch ist. Anfangs nur mit zwei Tischchen, einigen Palmzweigen und Bananenblättern als Dach, im Dezember 1992, kurz vor ihrer fünften Touristensaison zwischen Weihnachten und März, wartet sie schon mit zehn Tischen und einem reichhaltigen Angebot an Thai-Food auf. So verdient Preeda 200 Baht am Tag. An guten Tagen sind es sogar 400 bis 500 Baht, also etwas mehr als 15 Euro.

"Es gibt keine Pläne, die Strandküchen zu entfernen, und wir haben auch niemals der einheimischen Bevölkerung untersagt, den Strand vor dem Hotel zu benutzen, und wir werden das auch in Zukunft nicht tun", versichert der Geschäftsführer des Dusit Laguna Hotel Resorts, David Good, als Tom ihn auf die Blockade der Zufahrt anspricht. Sein Kollege von Sheraton Grande Laguna, Michele Cottray, verkündet Tom während eines Strandspaziergangs während der Blockade: "Der Eigentümer wird auf die Forderungen der Dorfbevölkerung eingehen. Strassen und Strände sind für alle da".

Satt , faul und träge sitzt Tom Traveller auf dem Balkon in der schwülwarmen Nacht. Von Preeda's Kitchen zurück ins Kittchen. Zelle 246. Vom Ende der Blockade keine Spur. Tom hat jetzt viel Zeit über alles nachzudenken Der Eagles-Song vom Hotel California kommt ihm in den Sinn, „where you can check in - but you never leave...". Vom Balkon der Nachbarzelle # 248 blickt Kathleen M. Burns von der Washington Post versonnen auf's Meer. Auch sie scheint zu träumen.